„Hauptsache ohne Autos“

■ Im Hollerland entsteht Deutschlands erste Siedlung für unmotorisierte Menschen / Ab 1997 bezugsfertig

Was massenhafter Autoverkehr bedeutet, das kann Familie Harms ständig hören und riechen: sie wohnt an einer Ausfallstraße im Bremer Osten, deren Breite zwischen vier und sechs Spuren wechselt. „Die Autos nerven“, sagt Jörg Harms, der mit seiner Frau Barbara und der zehnmonatigen Tochter Stefanie selber auf einen Wagen verzichtet. Verständlich, daß alle drei auf Dauer eine andere Bleibe suchen. Vor zwei Jahren haben sie vom geplanten autofreien Wohnprojekt im Hollerland erfahren und sich auch gleich dafür angemeldet.

1997 soll dieses bundesweit erste autofreie Wohngebiet bezugsfertig sein. Eine Pioniertat, die auf ein Forschungsprojekt der Universität Bremen zurückgeht: vor vier Jahren hat Professor Thomas Krämer-Badoni sechs Haushalte beobachtet, die einen Monat lang bereit waren, auf ihren PKW zu verzichten. Die Auswertung des Versuchs überraschte: die Familien hatten sich in ihrer Mobilität nicht eingeschränkt gefühlt, obwohl sie kleine Kinder hatten, die zum Arzt, zum Ballett, zum Kindergarten oder zur Schule gebracht werden mußten. Fünf der sechs Familien trennten sich nach dem Versuch endgültig von ihrem Wagen, weil sie das Leben ohne Auto gesünder, streßfreier und erlebnisreicher finden. In Zusammenarbeit mit Stadtentwicklungssenator Ralf Fücks entwickelte sich die Idee einer autofreien Siedlung. 300 Interessenten meldeten sich, als der Plan 1992 per Zeitung bekanntgegeben wurde.

Verzicht fürs Leben

„Wir hatten damals schon ein Jahr lang kein Auto mehr, waren an der Initiative interessiert und haben uns gemeldet“, sagt Barbara Harms. Mittlerweile ist das Ehepaar im Verein „Autofrei im Hollerland“ aktiv, der den Behörden Vorschläge zur Gestaltung des Wohngebietes macht und die Interessen der künftigen BewohnerInnen vertritt.

Dabei sind die beiden Harms' keine finsteren Ideologen, die seit jeher schäumend gegen die Wagenburgen aus Blech zu Felde ziehen. Jörg Harms arbeitet als Paketzusteller bei der Post und ist selbst täglich mit einem Kombi unterwegs. Der private Autoverzicht habe sich bei ihnen eher allmählich ergeben, erzählt das Ehepaar. Ihr letzter fahrbarer Untersatz habe monatelang unbenutzt auf dem Parkplatz gestanden, weil sie die öffentlichen Verkehrsmittel und das Fahrrad bequemer fanden. Dann hätten sie ihn „ohne Reue“ abgestoßen.

Wirklich niemals Sehnsucht nach der benzinseligen Unabhängigkeit und Mobilität? Manchmal bei ganz schlechtem Wetter einzukaufen, das sei schon unbequem, aber das komme so selten vor, daß sich ein Auto einfach nicht lohne, erklärt Frau Harms. In den Urlaub fahren sie mit der Bahn, ab und zu holen Bekannte oder Verwandte sie zu einem Ausflug mit dem Auto ab. Für schwere Möbeltransporte leihen sie ein Fahrzeug aus, Getränkekisten holen sie mit dem Fahrradanhänger ab.

„Sonst sehen die Leute ja immer nur die positiven Sachen beim Auto. Wir erleben dagegen in unserer Wohnung alle Nachteile“, erzählt Jörg Harms. Nachts bei offenem Fenster zu schlafen, sei zum Beispiel unmöglich. „Wir erkennen aber auch die Vorzüge, ohne Auto zu leben: wir sparen Geld, leben bewußter und haben weniger Streß.“

Die Harms' sind ziemlich entschlossen, für ihr weiters Leben auf ein eigenes Auto zu verzichten. Das ist auch Bedingung, wenn man in das Hollerland-Projekt ziehen will. Das gilt später sogar für die Kinder: „Wir hoffen ja, daß unsere Tochter als Erwachsene gelernt hat, daß ein eigenes Auto überflüssig ist, aber wenn sie eins haben will, dann müßte sie nach den jetzt getroffenen Vereinbarungen ausziehen“, sagt der Papa. Sollte jemand aufgrund einer zwischenzeitlich aufgetreten Behinderung oder einem unvorhergesehenen Arbeitsplatzwechsel ein Auto unbedingt brauchen, dann könne die Eigentümer- und Anwohnerversammlung jedoch Ausnahmen beschließen.

Es gibt bereits Nachahmer

Wer ins Hollerland zieht, muß sich seiner Sache also sicher sein. Familie Harms hofft, sich in einigen Jahren ein Reihenhaus leisten zu können. Wer sich in der Siedlung nicht nur einmieten, sondern einkaufen will, könnte wegen des verbindlichen PKW-Verzichts auf Probleme beim Wiederverkauf des Wohnungseigentums stoßen.

Die Preise sind für Bremer Verhältnisse hoch: Rund 360.000 Mark werde die Baugesellschaft wohl für ein Reihenhaus verlangen, sagt der zuständige Referent beim Stadtentwicklungssenator, Michael Glotz-Richter. Es seien jedoch 70 Sozialwohnungen mit den üblichen Einstiegsmieten zwischen neun und zehn Mark pro Quadratmeter geplant, die dann ein Drittel der Siedlung ausmachen werden.

„Die teuren Grundstückspreise und die völlige Neuerschließung treiben im Hollerland den Preis sehr hoch“, erklärt Glotz-Richter. Er gibt allerdings zu bedenken, daß die Häuser mit Stellplätzen circa 12.000 Mark und mit Tiefgaragen etwa 25.000 Mark teurer wären. So werden nur am Rand der Siedlung 30 Parkplätze entstehen. „Das ist das Mindestmaß, um die Bauvorschriften zu erfüllen, ein Teil der Plätze ist für Besucher, ein anderer für die Car-Sharing-Stelle, die am Hollergrund eingerichtet wird“, sagt Glotz-Richter.

Car-Sharing bedeutet, daß sich zwischen zehn und 15 Personen einen Wagen teilen, den sie nach vorheriger Absprache benutzen können. Die BenutzerInnen zahlen dafür ein Kilometergeld. Das solle natürlich möglichst selten nötig sein, sagt der Stadtentwickler: „Die nächste Bus- oder Straßenbahnhaltestelle wird nicht weiter als fünf Minuten entfernt sein. Und weil die Bremer sowieso schon 22 Prozent aller Wege mit dem Rad erledigen – eine äußerst hohe Quote – bauen wir besonders die Fahrradverbindungen aus.“

Auf drei Wegen soll die Innenstadt vom Hollerland aus errreicht werden können. Einer davon wird an einer belebten Straße entlang führen, weil besonders Frauen den Weg durch den schwach beleuchteten Bürgerpark am Abend meiden. Wer dann vor seinem Haus ankommt, soll sein Fahrrad nicht mühselig in den Keller schleppen müssen, sondern eine ebenerdige Abstellanlage vorfinden, die auch für einen Anhänger Platz hat.

Das Bremer Projekt ist inzwischen nicht nur in Deutschland, sondern auch in Brüssel und Amsterdam auf Aufmerksamkeit gestoßen. In Nürnberg, Berlin, Gießen und Tübingen will man nach dem Bremer Vorbild ähnliche Vorhaben unterstützen. „Es geht um einen Baustein auf der Suche nach einem ökologisch sinnvollen Lebensstil“, sagt Glotz-Richter und verweist auf die vielen Haushalte in Deutschland, die ohne Auto leben. 27 Prozent seien es in den alten Bundesländern, 49 Prozent in den neuen: Die müssen unter einem Verkehr leiden, den sie nicht verursachen.

Für die 210 autofreien Wohnungen im Bremer Hollerland gibt es schon vor Baubeginn 160 Bewerber und potentielle Käufer. Auf dem Gelände der ehemaligen Kaserne in Huckelriede soll sogar noch eine weitere autofreie Bremer Siedlung mit 120 Wohnungen entstehen. Dort soll das Wohnungseigentum dann um zehn Prozent billiger als in Hollerfeld sein. Auch dorthin würde die lärm- und abgasgeplagte Familie Harms gerne ziehen: „Hauptsache es ist autofrei.“

Alois Bierl