: Teer zum Einreiben für das männliche Glied
Abtreibung und Verhütung im Islam ■ Von Karim El-Gawhary
Den feinen Unterschied zwischen Mensch und Esel hat al-Jahiz schon im 9. Jahrhundert zu Papier gebracht. Er ist nur einer von zahlreichen Volksliteraten und Medizinern, die sich im islamischen Mittelalter des Themas Familienplanung offen angenommen hatten. Vor allem waren es aber die Ulema, die islamischen Rechtsgelehrten, die in ihren Werken und fatwas bis heute die Frage zu beantworten versuchen, ob Familienplanung, Verhütung und Abtreibung mit der Scha'ria, dem islamischen Recht, in Einklang stehen.
Im Gegensatz zur katholischen Kirche, fand sich bei den islamischen Rechtsgelehrten bereits im Mittelalter ein bemerkenswert toleranter Umgang mit der Frage der Verhütung. Die Ulema konnten sich dabei auf die sunna, die Überlieferungen über das Leben und die Aussagen des Propheten Muhammad stützen. Bereits die Gefährten des Propheten praktizierten azl – coitus interruptus, das damals sicherste und bekannteste Mittel der Verhütung. Offensichtlich haben den Propheten derartige Praktiken nicht gestört. „Zu Zeiten des Propheten pflegten wir azl zu praktizieren. Als ihn diese Nachricht erreichte, hatte er nichts dagegen einzuwenden“, heißt es in einer der Überlieferungen. Die überwiegende Mehrheit der islamischen Rechtsschulen und -gelehrten zog daraus den Schluß, daß Verhütung nicht zu den verbotenen Dingen des Lebens gehört. Gottes Wille konnte mit Hilfe von Verhütung ohnehin nicht hundertprozentig kontrolliert werden. Daß so manche Paare nach unterbrochenem Geschlechtsverkehr trotzdem mit Kindersegen beschert wurden, war den Juristen ein zusätzliches Argument.
Einer der bekanntesten dieser muslimischen Juristen des Mittelalters, Abu Hamid Muhammad al- Ghazali (1058–1111 n. Chr.), widmete sich in Bagdad ausführlich dem Thema der kontrollierten Geburt. Akzeptable Gründe für die präventive Verhinderung einer Schwangerschaft gab es laut al- Ghazali viele. So die Erhaltung der Gesundheit und Schönheit der Frau oder ein zu geringer Zeitraum von einer Schwangerschaft zur nächsten. Er ließ auch ökonomische Gründe gelten. Seinen Kinderwunsch zu bremsen, weil man mit zu vielen Kindern wirtschaftlich unter Druck geriet, war für al-Ghazali ein legitimes Motiv. Den einzigen Grund, den der Jurist ausdrücklich nicht billigte, war die Angst, eine Tochter statt einen Sohn in die Welt zu setzen.
Als al-Ghazali sich über islamisch akzeptable Indikationen Gedanken machte und die muslimischen Juristen die Frage diskutierten, ob die Praktik des azl nicht das Recht der Frau auf Geschlechtsverkehr und Orgasmus beschneide, war Verhütung für die anderen großen Schriftreligionen noch ein absolutes Tabu. „Es ist verboten, Samen zu zerstören, also darf der Mensch keinen coitus interruptus praktizieren“, folgerte der jüdische Philosoph und Arzt Maimonides im Mittelalter. Erst in modernen Zeiten erlaubten die Rabbis Verhütung für den Fall, daß das Leben der Mutter durch eine Schwangerschaft gefährdet wird. Hundert Jahre nach al-Ghazali lehrte der christliche Philosoph Thomas von Aquin, daß ein Verzicht auf die Besamung während des sexuellen Aktes ein Vergehen gegen Gott sei. Diese Position ist bis heute innerhab der katholischen Kirche dominant.
Neben den Juristen schenkten auch die muslimischen Mediziner des Mittelalters der Verhütung weit mehr Aufmerksamkeit als ihre europäischen Kollegen. Der bekannteste unter ihnen, der in Europa als Avicenna bekannte Ibn Sina (980–1037), beschrieb in seinem Buch „Al-Qanun Al-Tibb“ (Die Gesetze der Medizin) zwanzig verschiedene Verhütungsmethoden. Die Palette reicht vom Trinken des Wassers der Basilikumpflanze über die Blüten und Samen des Kopfsalates, die nach der Periode und nach dem Geschlechtsverkehr von der Frau anzuwenden seien, bis zum Einreiben des männlichen Gliedes mit Teer.
Die populäre mittelalterliche Literatur griff das Thema ebenfalls auf. „Laßt uns Gott preisen und danken. Gäbe es nicht den Gebrauch der Rautenpflanze, die Kinder von Sängern und Prostituierten würden die Welt bedecken“, dichtete Ibn Qutaiba im neunten Jahrhundert. Der Volksliteratur ist es zu verdanken, daß die Rezepte nicht nur in medizinischen Kreisen verbreitet waren. „Sie sagen eine Frau, die ein Zäpfchen mit Elefantenkot benutzt, nachdem sie es mit Honig mischt, wird niemals empfangen“, schrieb der bereits erwähnte al-Jahiz. In seiner Studie „Sex und Gesellschaft im Islam“ verglich der Historiker Bassam Musallam die verschiedenen Rezepte von Medizinern und Volksliteraten.
Mit der Diskussion über Bevölkerungswachstum und neue Verhütungsmittel in diesem Jahrhundert hat die Debatte unter islamischen Rechtsgelehrten neuen Zündstoff erhalten. Als erster äußerste sich in diesem Jahrhundert Scheich Abdel Megid Salim 1937 zum Thema. Salim war damals der Scheich al-Azhar in Kairo. Als Vorsteher der al-Azhar, der ältesten islamischen Universität, fungierte er als eine der wichtigsten Rechtsautoritäten im sunnitischen Islam. Mit der im islamischen Recht gebotenen Methode des Analogieschlusses befürwortete er 28 Jahre vor Beginn des offiziellen ägyptischen Familienplanungsprogrammes alle modernen Verhütungsmethoden. Der Mufti Ägyptens, Scheich Tantawi, billigte vor sechs Jahren in einer fatwa Familienplanung aus ökonomischen, kulturellen oder gesundheitlichen Gründen. Zahlreiche andere Scheichs in den arabischen Staaten, in Singapur, Iran, Malaysia und Indien befürworteten Empfängnisverhütung in fatwas, Büchern und auf Konferenzen.
Bei einer Konferenz von Rechtsgelehrten im marokkanischen Rabat meldete sich 1971 auch die Minderheitenmeinung zu Wort, die Familienplanung ablehnt. Scheich Ahmad Sahnoun, ein Vertreter des marokkanischen Erziehungsministeriums, bezog sich dabei auf den Spanier Ibn Hazm, der als einziger muslimischer Rechtsgelehrter im Mittelalter azl als „Kindermord“ ablehnte.
Mit der Politisierung des Islam und der neuen antiwestlichen Stimmung in der arabischen Welt, die mit einer islamfeindlichen Atmosphäre im Westen Hand in Hand geht, bekommt das Thema eine völlig neue Komponente. Der Pakistaner Abu Ala Maududi, einer der ersten Ideologen der islamistischen Bewegung, sah in der Familienplanung eine westliche Attacke gegen den Islam, mit der die Zahl der Muslime reduziert werden solle. Andere konservative Opponenten sehen in Familienplanung einen moralischen Verfall und eine zunehmende Säkularisierung der Gesellschaft. Ägyptens Islamisten kritisieren die im September in Kairo stattfindende Weltbevölkerungskonferenz: „Westliche Kreise glauben, daß die wirkliche islamische ,Atombombe‘ in dem schnellen Wachstum der muslimischen Bevölkerung besteht“, schrieb der islamistische Vordenker Fahmi Huweidi in einer Kritik zur Konferenz.
Gerade in den achtziger Jahren bekamen die Gegner der Familienplanung unter den Scheichs Aufwind. „Um so wichtiger“, sagt Abdel Rahim Omran, der Chefbeauftragte der Azhar-Universität in Sachen Geburtenregelung, „daß der heutige Scheich al-Azhar vor drei Jahren in seinem Buch ,Gesetze der Scha'ria und gynäkologische Probleme‘, die Ansicht der Mehrheit der Ulema bestätigte. Schwangerschaftsverhütung sei weder Mord noch stehe es im Widerspruch mit der Gabe Gottes oder dem Vertrauen in Gott.“
Während die Mehrheit der islamischen Juristen Verhütung bejaht, gehen die Meinungen in der Frage der Abtreibung weit auseinander. Die Textgrundlage zur juristischen Diskussion über den Schwangerschaftsabbruch ist die sogenannte prophetische Überlieferung der Vierzig. „Die Keimzelle eines jeden von euch ist vierzig Tage lang im Mutterleib in Form eines lebendigen Keims (nutfa). Dann wird es zu einem Blutgerinnsel (alaqa) für den gleichen Zeitraum. Danach wird es ein Klumpen (mugda) für die gleiche Periode, und anschließend wird der Engel geschickt, um ihm die Seele einzuhauchen.“ Spätestens nach dieser Beseelung wird der Embryo von den Ulema als ganzer Mensch angesehen. Eine Abtreibung ist dann nur noch erlaubt, wenn das Leben der Mutter durch die Schwangerschaft gefährdet ist.
Was allerdings in der Zeit vor den 120 Tagen möglich ist, und das ist immerhin ein ganzer Monat nach so mancher westlicher Fristenregelung, darüber gehen die Meinungen auseinander. Manche islamische Rechtsschule, wie etwa die Hanafitische Schule, betrachten Abtreibung in den ersten 120 Tagen als makruh – nicht erwünscht, aber auch nicht verboten. Sie heben eine Abtreibung innerhalb von 120 Tagen damit in dieselbe Rechtskategorie, wie etwa einen Moscheebesuch ohne Gebet. Nach der Hanafitischen Rechtsschule muß eine Frau auch nicht um die Erlaubnis des Mannes ersuchen, wenn sie einen triftigen Grund hat. Als solcher gilt beispielweise das Stillen eines vorigen Babys. Eine Malikitische Rechtsschule verbietet die Abtreibung dagegen vollkommen. Nach ihrer Ansicht wird der Fötus nicht erst nach der Beseelung ein Mensch, sondern zu dem Zeitpunkt, da der männliche Samen sich im Mutterleib einnistet. Die Schiiten sind ebenso streng. Andere Schulen erlauben eine Abtreibung nur in den ersten 40 oder 80 Tagen.
In den letzten Jahren bekamen zusehends konservative Rechtsgelehrte die Oberhand. Noch vor einem Jahrzehnt ließ der Scheich al- Azhar die Frage der Abtreibung vor dem 120. Tag offen für die Auslegung der verschiedenen Rechtsgelehrten. In der neuesten Erklärung der Islamischen Forschungsakademie der Azhar zur Weltbevölkerungskonferenz haben die Scheichs die Frage ohne größeren Disput entschieden. Abtreibung sei zu jedem Zeitpunkt verboten, selbst wenn die Frau vergewaltigt worden sei. Nur das Leben der Frau rechtfertige den Eingriff, heißt es. „Wir haben heute mehr medizinische Erkenntnisse, wann Leben beginnt“, antwortet Mahmud Zakzuk, Dekan der theologischen Fakultät der Azhar auf die Frage, warum sich die Scheichs heute konservativer geben als im Mittelalter. Frauen waren an der Entscheidung nicht beteiligt.
Die Priester der christlich-koptischen Kirche in Ägypten hatten im Gegensatz zu den Scheichs nie einen Disput zu dem Thema zugelassen. Bischof Gregorius hält eine Abtreibung für ein brutaleres Verbrechen als der Mord eines Kindes nach der Geburt und Taufe. Eine Frau, die abgetrieben hat, sollte exkommuniziert werden, schrieb er in seinem Buch „Abtreibung und Christentum“.
Wie der Islam tatsächlich in der praktischen Familienplanungspolitik ausgelegt wird, hängt meist von der jeweiligen Meinung der politischen Elite des Landes ab. Nach der islamischen Revolution im Iran 1979 gab die Islamische Republik die Bevölkerungspolitik des Schahregimes auf. Sie wurde als imperialistisches Instrument zur Kontrolle der Dritten Welt angesehen. Abtreibung und Sterilisation wurden verboten, das Mindestheiratsalter wurde herabgesetzt. Auszüge aus dem Koran und der Überlieferung der Propheten dienten als Rechtfertigung für eine Wiederherstellung der traditionellen Frauenrolle.
Das änderte sich, als die Grenzen des Wachstums deutlich wurden. Mit der katastrophalen wirtschaftlichen Situation nach dem fast acht Jahre dauernden iranisch- irakischen Krieg und den fallenden Ölpreisen wurde in Teheran erneut eine Wende eingeläutet. Nur zwei Monate nach dem Krieg verkündete die Islamische Ratsversammlung eine Nationale Politik der Geburtenkontrolle. Inzwischen sind Methoden der Schwangerschaftsverhütung in die Lehrpläne iranischer Schulen integriert. Fernsehspots, Broschüren und Aufkleber sollen für mehr Bewußtsein bei der Planung der Familie werben. Gesundheitsminister Ali Reza Marandi berichtet stolz, daß die Geburtenrate in den letzten Jahren um ein Drittel gesunken ist.
Daneben versuchen Frauengruppen schrittweise, die Ausbildungssituation für Frauen und ihre rechtliche Stellung zu verbessern. So wie in den ersten Tagen der Revolution die Frau mit Hilfe der Religion auf die Mutterrolle reduziert wurde, so wird jetzt ebenfalls mit den Grundlagen des Islam argumentiert. In den Freitagsgebeten versuchten die Imame IranerInnen von der Notwendigkeit der Familienplanung zu überzeugen.
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