: Die Mailänder Unfähigkeit zu regieren
Nach dem Ende des alten Regimes in Italien und der neuen Rechtsregierung in Rom: Ratlosigkeit und Minderwertigkeitskomplexe herrschen in der Stadt Craxis, Bossis und Berlusconis ■ Aus Mailand Werner Raith
Wir haben“, sagt Ambrogio D'Urto und dreht sich in seinem Taxi so vehement um, daß man das nächste Straßenschild schon fast durch die Windschutzscheibe stoßen wähnt, „wir haben lediglich die Teufel getauscht.“ Im letzten Moment bekommt er die Kurve noch, biegt in eine Taxi-Insel ein und hält abrupt. „Scusa, Entschuldigung, normalerweise bin ich nicht so unkonzentriert, aber wenn ich auf dieses Thema komme...“ „Dieses Thema“ wurde von dem aus Rom stammenden, jedoch überwiegend für Mailänder Zeitungen und Magazine arbeitenden Publizisten Ernesto Galli della Loggia aufgeworfen und lautet schlicht: Ist der Mailänder als solcher überhaupt regierungsfähig? Taxifahrer Ambrogio wirft den Kopf in den Nacken und hebt die Schultern: „Er hat völlig recht, wir können's nicht, wir können's nicht.“ Das hatte Galli della Loggia so gar nicht gesagt, sondern nur gefragt – doch die Antwort geben ihm die Mailänder offenbar selbst, und sie ist ein klares Nein.
Ambrogio hatte das „Thema“ selbst angeschnitten mit einem kräftigen Fluch auf seinen Mailänder Bürgermeister Marco Formentini. Der hat all die Prioritäten, die er nach seinem Amtsantritt vor gut einem Jahr verkündet hatte, bis heute „nicht einmal angegangen“. So ist nichts von der geplanten Entlastung der Innenstadt vom Schwerverkehr zu spüren, auch läßt eine neue Immissionsverordnung gegen den Smog auf sich warten, und eine verbesserte Gewerbeordnung, die der Stadt eine ausgeglichenere Infrastruktur verschaffen sollte, ist nicht in Sicht.
Dennoch ist die pauschale Schelte zweifellos auch ein wenig ungerecht. Denn daß Formentini nicht schlecht regiert, geben sogar einige seiner Gegner zu, Nando Dalla Chiesa, sein Konkurrent bei den Bürgermeisterwahlen, zum Beispiel. Ihn beeindruckt etwa, daß „Formentini, seit er sich aus dem Schatten seines Parteichefs Bossi zu lösen begonnen hat und nicht mehr die ständige Präsenz im Fernsehen sucht, einen ansehnlichen Arbeitseifer zeigt und die tägliche Routinearbeit klaglos auf sich nimmt“. Aber den Mailändern klingt natürlich immer noch in den Ohren, wie Formentini – seinerzeit als „Liga“-Kandidat ganz oben und noch ohne die lästige Konkurrenz des ebenfalls aus Mailand stammenden Silvio Berlusconi mit seiner im Herbst gegründeten „Forza Italia“ – versprochen hatte, aus der „heimlichen Hauptstadt“ Italiens eine echte zu machen, zwar nicht von Italien, aber doch als Rom ebenbürtige Kapitale einer autonomen Region Norditalien.
Daß daraus immer weniger wird, hängt freilich nicht nur mit mangelndem Geld oder dem Abbau förderalistischer Ideen zusammen. Auch das vordem so gut passende Argument, „die in Rom“ blockierten alle schönen Vorhaben des ewigen Rivalen Mailand, zieht nun nicht mehr: in Rom waltet eine Regierung, deren Mitglieder zu gut zwei Dritteln aus Lombarden oder dort groß gewordenen Personen besteht.
Könnte es wirklich sein, daß Mailand, das so geschickt ist im Geldscheffeln und im Showgeschäft, das Italiens wichtigste Aktienbörse beherbergt und die größten Presseorgane, das den großen Selbstreinigungsprozeß der Antikorruptionsermittlung Mani pulite auslöste, daß dieses Mailand sich besonders schwertut, wenn es ans Regieren geht? „Mailänder haben das noch nie gekonnt“, sagt Ambrogio im Ton eines Universitätsprofessors, und seine Kollegen nicken allesamt mit dem Kopf wie eine Schar Scholaren aus dem Mittelalter: „Zuerst war da der Craxi, vier Jahre Ministerpräsident, und was ist rausgekommen? Tangentopoli, die Schmiergeldrepublik. Dann kam der Bossi mit seiner Liga Nord: Der hat viel Wirbel gemacht und Mailand zum Alptraum für Rom werden lassen – aber jetzt, wo er sagen soll, wo's langgeht, haut er immer noch rum wie ein Verrückter, keine Sau weiß, was er will. Und nun der Berlusconi: lauter heiße Luft läßt der raus, sonst nix. Kein einziges Gesetz, das funktioniert, kein Arbeitsplatz mehr!“
„Bloß Millionen von Mücken, die hatten wir früher nicht!“ wirft Gerardo dazwischen, ein Gemüsegroßhändler, der gerade in ein Taxi einsteigen will. Tatsächlich stöhnt die Stadt in diesem Sommer unter einer Stechbiester-Plage ungekannten Ausmaßes. Daß die Mückeninvasion automatisch Berlusconi in die negative Waagschale gelegt werden, zeigt laut Gerardo „ganz klar, wo der Wind jetzt herweht: vor ein paar Wochen noch hätte man gesagt, der Berlusconi wird's schon richten, jetzt sagt man, er ist schuld an der Plage.“
Mailand in der Krise – ein Komplex rülpst sich da hoch, den die Stadt seit dem Mittelalter mit sich herumschleppt. „Mailänder hatten schon immer den Tick, alles zu können – und dann zu verzagen, selbst wenn sie leidlich gut waren“, hat der Nestor der italienischen Historikergilde, Eugenio Garin, festgestellt.
Ist die erneut losgetretene Polemik gegen die Regierungsunfähigen aus Mailand nur ein Ausfluß negativer Propaganda seitens übelwollender Schreiberlinge? Berlusconi sucht verzweifelt, diesen Eindruck zu erwecken, und verpatzt dabei noch mehr. Nach ihm komme das Chaos, hatte er während der Feiertage Mitte August behauptet und mußte danach eiligst erneut aus dem Urlaub vor die Kameras, weil die Presse und dazu auch noch der Staatspräsident Größenwahn vermuteten. Nein, so habe er es nicht gemeint, sagte Berlusconi kleinlaut, ihm sei nur das dauernde Gerede einer „konstitutionellen Regierung“ auf die Nerven gegangen.
Über eine große Koalition unter einem anderen Regierungschef spekuliert Italien vor allem seit dem galoppierenden Liraverfall und den diversen Schnitzern der regierungsunerfahrenen Ressortchefs immer lauter. Daß derlei das Ende des „Experiments Berlusconi“ bedeuten würde, ist allen klar; den Mailändern darüber hinaus aber auch, daß es das Ende des Traumes von der „echten“ Hauptstadt bedeuten würde. Darum mag sich auch Berlusconi-Gegner Ambrogio nicht damit abfinden: „Auch wenn er ein Schwein ist – Alternative gibt's halt derzeit keine“, meint er. „Wollen hoffen, daß es im Herbst besser wird.“ Mit ihm hoffen das laut Umfragen mehr als 60 Prozent der Italiener – Zeichen, daß der Vertrauensvorschuß für die neue Regierung noch nicht ganz erschöpft ist, denn ansonsten bewertet dieselbe Mehrheit die bisherigen Leistungen der Berlusconi-Administration als höchst unbefriedigend.
Die Krise des lombardischen Selbstvertrauens spielt selbst in Gebiete hinein, die traditionell eher politikfern sind. „Nehmen Sie das Beispiel Monza“, sagt Carlo Bernini, Leiter eines lokalen Sportsenders: „Zustände wie in der Schülermitverwaltung eines Gymnasiums.“ Die dortige Automobil-Rennpiste ist seit Monaten Objekt einer Hintertreppenkomödie. Wochenlang haben Gemeinderäte, Provinzbeamte, Landesaufseher und das römische Umweltministerium den Schwarzen Peter hin- und hergeschoben: es ging um die Entschärfung des Kurses nach den schweren Unfällen bei den letzten Formel-1-Rennen. Da sollten zunächst einmal fünfhundert Bäume gefällt werden. Das führte zu mächtigen Protesten der Umweltschützer; der Plan wurde danach von der einen Stelle abgelehnt, der übergeordneten gebilligt, bis es am Ende dem internationalen Rennverband FIA zu dumm wurde; er setzte den Großen Preis – fällig am 11. September – kurzerhand ab.
Da erst wurden die lombardischen Gralshüter lebendig. Liga- Chef Umberto Bossi ließ die von seiner Partei dominierte Regionalregierung der Lombardei zurücktreten, Berlusconis Staatssekretär Gianni Letta düste nach Frankreich. Am Ende stand das, was die Umweltschützer schon vor zwei Monaten vorgeschlagen hatten: der Bau einer Variante, der höchstens zehn Bäume zum Opfer fallen und die dennoch breite Auffangräume für havarierende Autos und Fluchtwege für die Zuschauer vorsieht. „Ein Schauspiel, wo man nur noch nach einem Mauseloch sucht, um sich nicht als Lombarde erkennen geben zu müssen“, sagt der Sportjournalist.
So nimmt es nicht wunder, daß bis heute die zu erwartende Präsentation der „neuen Kräfte“ immer wieder ins Stocken gerät. „Möchte wissen, wo die herumsitzen“, sagt ein Ober im noblen „Da Giannino“ in der Via Sciesa, wo der Gast schon für ein einfaches Menü gerne mal 200 Mark hinblättert und sich früher die Schickeria geradezu drängelte. „Entweder verstecken sich alle zu Hause, weil sie sich über ihre Bauchlandungen schämen, oder sie glauben selbst nicht daran, daß der große Aufschwung und damit ihre Stabilisierung in der High-Snobiety auf Dauer ist.“ Jedenfalls scheint dem Nobelkellner „der Boom in weiter Ferne, und wenn der Herr Berlusconi etwas von hunderttausend neuen Unternehmen faselt, dann meint er wohl die McDonald's-Ketten, die sich überall einnisten“.
Die Arroganz gegenüber den Billiganbietern ist deutlich. Doch gerade in solchen Ansprüchen zeigt sich die Mentalität, die Mailands Bürger als die einzig sinnvolle ansehen. Zuerst gilt es, Bestehendes zu sanieren, dann erst sind Neugründer dran. Die „Ligen“ haben diesem Urmailänder Anliegen mit ihrer Forderung nach einem Landeskinderbonus bei Geschäftsdarlehen und der Vergabe von Arbeitsplätzen Ausdruck verliehen und sind damit groß geworden. Berlusconi hatte eine Förderung des Mittelstandes versprochen – doch „nun sieht man“, sagt Bernardo Allenginso, ein Börsenagent, „daß alles entweder nur Etikettenschwindel ist – die hunderttausend neuen Unternehmen sind in Wirklichkeit schon bestehende, die sich nur umtaufen, um die Steuererleichterungen zu kassieren – oder daß diese Regierung Krethi und Plethi fördert, ohne die geringste Ahnung zu haben, ob die auch ein Geschäft führen können“.
Ambrogio jedenfalls verfällt auf der Rückfahrt zum Flughafen erneut in seinen Trübsinn. „Siehst du, überall haben wir breite, herrlich angelegte Chausseen. Jede andere Stadt würde da ein dichtes Grün in die Mitte pflanzen, Springbrunnen reinsetzen und uns so eine Lunge verschaffen, die uns atmen und nicht Koks husten läßt. Doch an so was denken unsere Administratoren zuletzt.“
Da hat er nicht ganz unrecht. Mailand, die Zweimillionenstadt am Fuße der Alpen, um die herum noch viele Wälder liegen, Seen, Gebiete guter Luft – dieses Mailand ist die Stadt mit dem wenigsten Grün, den verstaubtesten Plätzen, den lieblosesten Anlagen aller Großstädte Italiens. „Selbst Neapel, dieses stinkende Loch“, sagt Ambrosio, „hat sich mit seinen Bäumen und den Millionen Blumen mehr Natur erhalten als unser Mailand. Und was tun unsere Administratoren?“
Die Frage ist freilich, ob man mit Bäumepflanzen genug Wähler gewinnen kann. Der Soziologe Nando Dalla Chiesa mußte es erfahren: Er fiel mit genau diesem Programm der Begrünung des grauen Mailand bei den Oberbürgermeisterwahlen voriges Jahr in Bausch und Boden durch.
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