Chance für Granat: Pulen in Polen

■ Einst galt es als „Pflege heimischen Brauchtums“, doch inzwischen ist das Krabbenschälen ein Beruf, dem der Nachwuchs ausgegangen ist Von Heinke Ballin

In der Mitte knicken, an beiden Enden ziehen und – flutsch – liegt sie auf dem Teller, die leckere rosa Nordseekrabbe. Im Idealfall. Normalerweise quetscht der Krabbenfan dem Tierchen den gar gekochten Schwanz breit, reißt den Kopf zur Hälfte ab und polkt schließlich verzeifelt zwischen den Schalen der Beine herum, um zumindest einen Zipfel des begehrten Fleisches zu ergattern. Nach einer Stunde unermüdlichen Pulens, klebrigen Fingern und einem kläglichen Häufchen Fleisch, das nicht einmal eine Untertasse bedeckt und gegen die Hauskatze verteidigt werden muß, schwört der entnervte Gourmet: Nie wieder, das Krabbenfleisch wird fertig gekauft.

Doch die Menschen, die bereit und fähig sind, die Schale vom Fleisch in Sekundenschnelle und kiloweise zu trennen, werden rar: Der Beruf des Krabbenschälers stirbt aus. So schickt die Fischereigenossenschaft Holsatia mit Sitz in Husum und Friedrichskoog den von 36 Krabbenfischern – in ganz Schleswig-Holstein sind es noch 114 – angelandeten Fang zweimal pro Woche „icequickly frosted“ nach Polen. Dort wird der „Granat“ in ehemaligen Kasernen zu dem begehrten Krabbenfleisch veredelt, die Schalen wandern in die Tierfuttermittelindustrie.

Doch auf die billige Arbeitskraft der Polen, die Krabben sogar mit eigenen Fahrzeugen aus Husum holen und wieder hinbringen, wollen sich die plietschen schleswig-holsteinischen Fischer nicht verlassen. Seit Ende vorigen Jahres rattern in Friedrichskoog bereits fünf Krabbenschälmaschinen. Eine Investition von 1,1 Millionen Mark, die sich offenbar rechnet. Sie macht die Fischer zudem unabhängiger gegenüber den EG-Hygienerichtlinien, wie Holsatia-Geschäftsführer Rainer Mitteldorf betont.

Und nicht zuletzt war es der Amtsschimmel, der dem Beruf des Krabbenschälers mit den Garaus machte. So kann sich Husums Sozialarbeiter Horst Nymand noch gut an Zeiten erinnern, als sich Sozialhilfeempfänger mit Krabbenpulen in Heimarbeit ein sattes Zubrot verdienen konnten – und das wurde nicht auf die Sozialhilfe angerechnet. Die Beamten kniffen beide Augen zu, denn das Krabbenpulen galt als „Pflege heimischen Brauch-tums“.

Allerdings war das auch schwer verdientes Geld: Ganze 5,75 Mark bekamen die 1989 noch 160 Krabbenpuler der Fischereigenossenschaft Holsatia für ein Kilo Fleisch. Dafür, so berichtet Frank Händel, Assistent der Geschäftsleitung in Husum, mußten drei Kilo Krabben geschält werden. Doch 1989 kamen die neuen Verordnungen und EG-Richtlinien. Und die verlangten, daß dort, wo Krabben gepult werden, die Räume halbhoch gekachelt sind, daß weiße Kittel und Haarnetze getragen werden müssen – alles wegen der Hygiene.

Da hatte der einarmige Krabbenschäler, der mit seiner verbliebenen Hand griff und mit den Zähnen zog, an den sich Nymand noch immer mit einem breiten Grinsen erinnert, natürlich keine Chance mehr. Und die übrigen hatten keine Lust, für die paar Mark die heimische Küche den EG-Verordnungen ensprechend umzubauen. In Friedrichskoog pulen jetzt noch ganze 28 in „Heimentschälung“, wie es in der Fachsprache heißt. Die und die neuen Maschinen arbeiten für jene Feinschmecker, die „echte“ und nicht „weitgereiste“ Nordseekrabben verspeisen möchten.