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Tunnel-Gigantomanie in der Mitte Berlins

■ In einem Jahr soll damit begonnen werden, die Tunnel für Straße, Fern-, Regional- und U-Bahn durch das Regierungsviertel und den Tiergarten zu graben

Noch liegt das frühere Grenzland zwischen Ost und West im Herzen Berlins weitgehend brach. Außer ein paar Asphaltpisten ist zwischen Reichstagsgebäude und Potsdamer Platz seit dem Verschwinden der Mauer nicht viel entstanden. Das wird sich bald grundlegend ändern. Am Potsdamer Platz hat Daimler-Benz bereits mit dem Bau seines Drei-Milliarden-Projekts begonnen. Sony, Asea Brown Boveri (ABB) und Hertie werden folgen.

Läuft alles nach Plan, wird sich in einem Jahr das ganze Areal von der Spree im Norden bis zum Landwehrkanal im Süden in eine gigantische Großbaustelle verwandeln. Im Herbst 1995 soll damit begonnen werden, kilometerlange Tunnelanlagen für Straße, Fern-, Regional- und U-Bahn durch das künftige Regierungsviertel um den Reichstag und durch den Tiergarten in die Erde zu graben.

Sogar die Spree muß versetzt werden

6.000 bis 7.000 Bauarbeiter werden damit beschäftigt sein, schätzt Wolfgang Müller, stellvertretender Projektleiter für die Verkehrsanlagen im Zentralen Bereich. Je vier Röhren für Fern- und Regionalbahn sowie je zwei für den Auto- und U-Bahn-Tunnel werden in teils offenen Baugruben oder unterirdisch versenkt. Die Spree muß für eine Unterquerung sogar vorübergehend auf einer Länge von 120 Metern um 60 Meter versetzt werden, so Müller.

Der etwa 2,7 Kilometer lange Autotunnel mit jetzigem Kostenstand von rund 730 Millionen Mark soll den Durchgangsverkehr aus dem künftigen Regierungsviertel heraushalten. Der etwa 3,5 Kilometer lange Fernbahntunnel für den Nord-Süd-Verkehr wird zum neuen Lehrter Bahnhof führen, wo der Ost-West-Verkehr kreuzt. 3,25 Milliarden Mark sind nach Müllers Angaben dafür veranschlagt. Hinzu kommt eine U-Bahn-Strecke, die den Alexanderplatz mit dem Lehrter Bahnhof verbinden soll. Für einen ersten Abschnitt (Pariser Platz – Döberitzer Straße) von 1,9 Kilometern Länge sind 743 Millionen Mark angesetzt.

Umweltschützer laufen gegen die Verkehrsbauten Sturm. Eine eigens gegründete Anti-Tunnel GmbH, an der sich rund 50 Organisationen beteiligen, will die Projekte kippen, die in ihren Augen „umweltzerstörend, verkehrspolitisch sinnlos und finanziell wahnwitzig“ sind. Zu dem laufenden Planfeststellungsverfahren wurden 18.500 Einsprüche gesammelt. Das Grundwasser werde sinken und die Vegetation im Stadtpark Tiergarten flächenhaft absterben, warnen die Naturfreunde.

Müller weist diese Befürchtungen zurück. Das Grundwasser werde nicht abgesenkt. Er schildert das Vorgehen so: Erst werden Schlitzwände bis in 30 Meter Tiefe betoniert, zwischen denen der Boden ausgehoben wird. Dann wird unter Wasser eine Gründungssohle betoniert und verankert. Mehrere Taucher kontrollieren, daß die Betonsäule nicht abreißt und sich keine Fehlerstellen bilden. So entstehen mehrere riesige Becken. Allein eines der zehn Bassins wird mit einem Ausmaß von 110 mal 150 Metern anderthalbmal so groß sein wie ein Fußballfeld und 250.000 Kubikmeter Grundwasser fassen.

„Wir entnehmen nur das Wasser aus den Kästen. Es wird sofort wieder versickert oder in die Spree gepumpt“, versichert Müller. Das Verfahren sei in einer solchen Größenordnung zwar noch nicht angewendet worden, aber vom Grundsatz her erprobt. Um Risiken zu minimieren, würden die Baufelder in „händelbare Größen“ eingeteilt.

Müller bestätigt allerdings, daß 2.458 Bäume gefällt werden müssen. „Aber es werden etwa 27.000 neu gepflanzt“, betont er. Er rechnet trotz der Widerstände mit dem Baubeginn im August/September nächsten Jahres. Er gehe davon aus, daß eventuelle Klagen gegen die Vorhaben keinen Aufschub bedeuteten, da das Beschleunigungsgesetz angewendet werde. Das ganze Vorhaben steht unter Zeitdruck. Bis 1998 müssen die Tunnelgruben geschlossen sein. Zwar entstehen direkt darüber keine Bundesbauten. Aber wenn Bundesregierung und Bundestag nach Berlin kommen, wollen sie nicht auf eine Baustelle ziehen. Margret Scholtyssek (dpa)

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