: „So wie Kohl regiert – davon steht in der Verfassung nichts“
Der Ehrenvorsitzende der FDP muß sehr lachen. Über die SPD und ihren Scharping: „Er muß noch üben, der Herr!“ Über die Grünen und ihren Fischer: „Das einzig Zuverlässige ist seine Unzuverlässigkeit.“ Kanzler Kohl? Eine Art Verfassungsfeind. Ärgerlich: Noch läuft nicht alles so, wie Graf Lambsdorff es gerne hätte. „60-Stunden-Woche – warum nicht?“ Aber der Mann ist auch Realist. Er weiß, daß ihm im Jenseits nur eins bleibt: „auf Gnade“ zu hoffen. ■ Ein Gespräch mit Arno Luik
taz: Herr Lambsdorff, Sie wollten schon immer etwas Besonderes sein.
Lambsdorff: Ich habe mich einfach in einer gewissen Tradition bewegt. In der Schule, das war noch im Dritten Reich, wollte ich aktiver Offizier werden. Das war die Stimmung der Zeit. Und auch in meinem Internat, der Ritterakademie Dom zu Brandenburg, war das so: daß man dem Staat hilft, vor allem wenn er bedroht ist.
Eine harte Zuchtanstalt war dieses Internat.
Sie sagen das so negativ. Da gab es Ordnung, Disziplin, es war nüchtern, es war spartanisch. Man lernte, sich gegen andere durchzusetzen. Ich war gern da.
So müßte Erziehung auch heute noch sein?
Die Werte, die ich da mitbekam, haben mir in meinem ganzen Leben geholfen. Die Selbstdisziplin, die Härte, die Ausdauer, die...
...notwendig waren, um die Flick-Affäre durchzustehen?
Habe ich sicherlich auch da mitbekommen. Es waren das, was man landläufig abschätzig Sekundärtugenden nennt.
Mit denen man auch ein KZ führen kann.
Diesen berühmten sagenhaften Ausspruch Lafontaines...
...der „ein scheußlicher Mensch“ ist, laut Lambsdorff.
So hab' ich das nicht gesagt.
So zitierte Sie die „SZ“.
Ich habe mich ja neulich selbst als „Opa fürs Grobe“ bezeichnet, aber so eine Beleidigung läge auch für mich unter der Gürtellinie. Nein, diesen Ausspruch Lafontaines an die Adresse von Helmut Schmidt fand ich wirklich niederträchtig. Es ist ja richtig, daß man mit diesen Tugenden, wenn es keine anderen Wertmaßstäbe gibt, großes Unheil anrichten kann.
Gerade 17jährig, zogen Sie an die Front – als Freiwilliger. Hat Sie der Krieg auch als Abenteuer gepackt – wie Ernst Jünger „im Rausch“?
Wenn man den Krieg erlebt hat, kann man so manches nicht nachvollziehen, was Jünger geschrieben hat. Die Gefallenenliste in der Ritterakademie war riesig lang und...
...da gab es bei Ihnen nie den Gedanken: Halt?
Es gab keinen Moment des Nachdenkens, obwohl wir ein Regime verteidigten, das wir gar nicht so sehr mochten. Nicht, weil uns die Untaten bekannt gewesen wären, sondern weil wir die lärmenden SA-artigen Äußerungen für zu proletenhaft hielten.
Sie gingen in die Mordmaschinerie Adolf Hitlers. Auf Ihrem Weg zur Schule kamen Sie jeden Tag an dem Gefängnis vorbei, in dem Erich Honecker wegen Widerstands gegen dieses Regime einsaß.
Das wußte ich damals nicht. Ich hatte auch nie das Gefühl, in eine Mordmaschine eingegliedert zu werden. Daß es dann so war, ist bedauerlicherweise richtig.
War der Krieg für Sie auch die Möglichkeit, private Rache an den verhaßten Bolschewiki zu nehmen, die Ihren Vater 1917 als zaristischen Kadetten aus St. Petersburg vertrieben hatten?
Nein. Mein Vater war gegen die Nationalsozialisten. In unserer Familie war keiner Parteimitglied. Ich hatte die größten Mühen, als 13jähriger die Erlaubnis von meinem Vater zu bekommen, ins Deutsche Jungvolk einzutreten. Ich verstand das nicht, denn alle meine Schulfreunde waren da drin. Mit 18 Jahren wurden Sie zum Krüppel geschossen.
Ein amerikanischer Tiefflieger traf mich fünfmal, hat mir das linke Bein praktisch abgetrennt. Aber ich hatte Glück. Ich wurde auf einen Lkw gepackt, der zufällig vorbeikam, und in ein Hilfslazarett gebracht. Da hieß es: Habt ihr Tote drauf? Und ich rief: Tot bin ich nicht, aber ich möchte hier runter. Im OP fragte mich der Arzt, was ich – und das war am 31. März '45 – für ein Berufsziel hätte. „Aktiver Offizier“, sagte ich, und er meinte, damit sei es vorbei, eine Amputation sei notwendig. Ich hab' mir das angehört, ich hab' das hingenommen. Am nächsten Tag wachte ich auf, schlug die Decke zurück und sah: da war bloß noch ein Stumpf. Das war es dann. Ganz selten hab' ich mich in meinem Leben als Krüppel gefühlt.
Der „Spiegel“ hat mal über Sie notiert, der Lambsdorff tanze, als ob er drei Beine hätte.
Das ist ein Zerrspiegel. Ich tanze einfach gerne, ich mag Rock 'n' Roll, ich liebe den Rhythmus, mir macht das einfach Spaß – erst letztes Wochenende hab' ich getanzt.
Ihre Verwundung verdanken Sie ja auch Ihren liberalen Ahnherren, etwa Theodor Heuss, der mit seinem „Ja“ zum Ermächtigungsgesetz Hitlers Marsch an die totale Macht mit ermöglicht hat.
Ich habe dies nie so personenbezogen gesehen. Jeder weiß, wie schwer Theodor Heuss an dieser krassen Fehlentscheidung sein ganzes Leben zu tragen hatte. Ich finde es auch richtig, daß er – nicht von der Kollektivschuld – aber von der Kollektivscham sprach. So empfinde ich das auch. Für mich war es ein langsamer Prozeß, zu erkennen, was die Deutschen angerichtet hatten. Das ging schrittweise und stand in Verbindung zu den Nürnberger Prozessen. Das war schlimm, so hatte ich mir Deutschland nicht vorgestellt. Langsam erfuhr ich die Wahrheit über den 20. Juli. Den hatte ich im Keller der Kaserne in Stahnsdorf bei Berlin erlebt. Wir bekamen scharfe Munition, wußten nicht für wen oder gegen wen. Es hieß für den Einsatzfall am nächsten Tag.
Sie hätten die Verschwörer erschießen können?
Ich guckte damals meinen Kameraden an und fragte: Wofür gurten wir MG-Munition? Am nächsten Tag erfuhren wir, daß unser Kommandeur ein persönlicher Freund von Goebbels gewesen ist ... alles hätte passieren können.
Der 8. Mai – ist das für Sie der Tag der Befreiung oder der Tag der Kapitulation?
Es ist der Tag des Zusammenbruchs des Deutschen Reichs, es ist das Datum, das den Verlust großer Teile des Reichsgebiets besiegelt. Und es ist auch der Tag der Befreiung von dieser Bande, von der man sich gar nicht vorstellen kann, wie Europa ausgesehen hätte, wenn die den Krieg gewonnen hätten. Erich Kästner hat recht: Zum Glück gewannen wir ihn nicht.
50 Jahre danach verlöscht die Erinnerung an das Grauen. Seit dem 12. Juli 1994, an dem das Bundesverfassungsgericht das Urteil über Kampfeinsätze gefällt hat, darf die Bundeswehr wieder weltweit „deutsche Interessen“ durchsetzen.
Jetzt tun Sie mal langsam. Wer sagt denn so was?
So steht es in den neuen Bundeswehrrichtlinien von Herrn Rühe.
Ach, das ist Herrn Rühes Sprache, und das sind Herrn Rühes Überlegungen.
Das sind Ziele, für die Deutsche wieder kämpfen sollen, für den „ungehinderten Zugang zu Märkten und Rohstoffen in aller Welt“.
Für mich ist Rohstoffsicherung ein Teil des multilateralen Welthandelssystem. Es ist nicht Aufgabe der Bundeswehr.
„Eine Machtgeilheit“, notiert der „Stern“, herrsche in Bonn, die es kaum abwarten könne, daß es wieder heißt: „Germans to the front!“ Und Ihr Parteifreund Kinkel hat nach dem Urteil trompetet: „Jetzt sind wir frei“ – als ob ihm der Knebel der Verfassung die Kehle abgeschnitten hätte.
Kinkel trompetet nicht. Das ist nicht seine Art. Und es heißt auch nicht: Wir sind wieder wer. Es wird bei den Bundeswehreinsätzen bei der bewußten Kultur der Zurückhaltung bleiben.
Ihr Wort in Gottes Ohr, aber so rasant wie sich das Koordinatensystem in diesem Land nach rechts verschiebt, da scheint Undenkbares plötzlich möglich. Da gibt es Diskussionen, die vor ein paar Jahren völlig absurd gewesen wären: daß der Geheimdienst mit der Polizei kooperieren soll, daß...
Ich teile Ihre Bedenken: Ich halte nichts davon, daß die Bundeswehr im Inland eingesetzt wird, ich stimme auch dem Pressegesetz von Herrn Lafontaine nicht zu, und ich will das Polizeigesetz des Herrn Eggert nicht. Die FDP hat gegen die Notstandsgesetze gestimmt – in Rechtsstaatsfragen muß die FDP klare Konturen bewahren.
Wahlkampfgerede.
Das sind liberale Grundüberzeugungen. Und in diesen Fragen stehe ich ganz klar auf einer eher linksliberalen Position.
Dann muß Ihnen ja angst und bange werden vor Ihrem Koalitionskollegen Wolfgang Schäuble mit seinen offen nationalistischen Tendenzen.
Ich sehe die Gefahr, daß das Land nationalistischer wird. Und Schäuble treibt das Spektrum nach rechts. Für mich ist er zu sehr auf der rechten Seite angesiedelt. Aber ich halte es dennoch für keine gute Wortwahl, wenn Herr Scharping von ihm als einem Nationalisten spricht. Das sind Leute wie Schönhuber, Frey und ähnliche Zeitgenossen. Und ich finde schon, daß die CDU dafür sorgen muß, daß rechts von ihr keine undemokratische rechtsextreme Partei Stimmen fängt. Da akzeptiere ich auch gelegentliche Äußerungen, die mir nicht gefallen.
Nach Hoyerswerda, Mölln und Solingen: das ist ein Spiel mit dem Feuer.
Das ist gefährlich, sicher. Da muß es klare Konzeptionen geben, wie weit es gehen darf. Ich wünsche mir allerdings auch, daß die SPD klare Grenzen gegenüber der PDS zieht.
Der schreckliche Popanz PDS – für den CDU-Politiker Loos ist es klar: „Die PDS ist eine terroristische Vereinigung.“ Und ich nehme an, für Sie ist die Partei: einfach widerlich?
Die PDS ist undemokratisch. Ich habe das Programm durchgelesen. Sie ist, was die Verfassungsordnung dieses Landes anbelangt, eine verfassungsfeindliche Partei: In der Frage des Sozialismus, in der Änderung der Gesellschaftsverhältnisse bei uns und...
...ganz brav singt die Partei das Loblied auf den Pluralismus. Sie preist das Wertesystem von Freiheit, Gleichheit, Solidarität, garantiert dem Einzelnen sogar „ein Recht auf seelische Unversehrtheit“ und...
...gegen diese Werte ist an und für sich nichts zu sagen, nur: sie werden nicht eingehalten. Sehen Sie sich die Kommunistische Plattform an...
...das sind gerade mal 3.500 von über 130.000 Mitgliedern...
...eine sehr einflußreiche Gruppe innerhalb der PDS. Und der Mitgliederbestand dieser Partei setzt sich zu 85 Prozent...
Die CDU sagt zu 95 Prozent...
...oder 90 Prozent aus alten Kadermitgliedern der SED zusammen.
Aber ihre Wähler sind so verdammt jung.
Das ist eine andere Frage, und wir müssen uns überlegen, was wir falsch gemacht haben, daß diese undemokratische Partei so viele Wähler hat.
Der Berliner Kabarettist Peter Ensikat kann Ihnen drei Gründe nennen: „CDU, FDP, SPD“.
Das ist Unsinn.
Jedenfalls ist diese aufgeregte Diskussion doch pure Heuchelei: Die CDU wie auch die FDP haben ohne moralische Bedenken die Blockflöten in ihren Reihen aufgenommen.
Das ist eine völlig unzulässige Gleichsetzung. Das ist eine unglaubliche Unverfrorenheit! Die LDPD ist als demokratische Partei entstanden – einige ihrer Mitglieder sind erschossen worden.
Es gibt aber auch unzählige Beispiele für LDPD-Funktionäre, die das Hohelied auf den Sozialismus und die Nützlichkeit der Mauer gesungen haben.
Ich kenne die Rolle von Herrn Götting und von Herrn Gerlach. Und es ist unbestritten, daß die LDPD-Führung Schande über den Liberalismus gebracht hat. Aber die allein regierende, alles bestimmende Partei war die SED.
Die sich stets auf ihre treuen Verbündeten verlassen konnte: die Blockflöten.
Mein Herr, das ist, mit Verlaub, eine völlig andere Kategorie. Ich kenne viele Parteifreunde, die in die LDPD eingetreten sind, um einer Mitgliedschaft in der SED zu entkommen. Und die wehren sich ganz entschieden dagegen, mit den Kadergenossen der SED in einen Topf geworfen zu werden.
Ich glaube, daß Sie sich etwas einreden, von dem Sie tief innen wissen: Es stimmt so nicht.
Ich bin sehr wohl davon überzeugt, daß es so stimmt: Es ist unverschämt, die Blockparteien mit der allein bestimmenden SED gleichzusetzen.
Jetzt muß ich mal ganz tief Luft holen: Sie sind Aufsichtsratsvorsitzender der NSM-Apparatebau GmbH & Co, Sie sind Aufsichtsratsvorsitzender der Alcatel N.V. Amsterdam, der Iveco Magirus AG, Sie sitzen im Aufsichtsrat der Volkswagen AG, der Isola AG, Sie sind Präsident der Deutschen Schutzvereinigung für Wertpapierbesitz e.V. Sie haben ganz schön viel an der Hacke: Alles in allem sitzen Sie in neun Aufsichtsräten und halten zehn weitere Posten in Verbänden und Kuratorien...
Zehn Posten, glaube ich, sind es nicht. Aber die Frage ist doch: Mache ich meine Arbeit im Bundestag? Hat irgend jemand in der deutschen Öffentlichkeit den Eindruck, daß ich schlecht arbeite? Haben Sie Klagen gehört? Nein. Es ist mir klar, daß es nur wenige Abgeordnete gibt, die öffentlich so präsent sind und ein solches Arbeitspensum bewältigen wie ich.
Die Jungliberalen haben einen Ehrenkodex gegen Raffkes gefordert: Die Abgeordneten sollen nicht so viele Nebenjobs haben.
Ich höre das immer wieder: das kann keiner schaffen, das ist geradezu übermenschlich.
Das ist nicht das Problem: Sie sind der perfekte Lobbyist.
Ich bin für niemand ein Lobbyist.
Da kann ich Ihnen nur mit Dieter Hildebrandt antworten: „Ich kenne einen Menschen von nicht 50 Lenzen, der hat als einzelner vier Existenzen: als Minister, als Mensch, als Partei und als Christ, muß sich jeweils entscheiden, wer wo wann welcher ist. Zur Atomenergie sagt als Minister er ja – als Mensch meint er nein – als Partei bla-bla-bla. Er entscheidet als Christ, und der Christ in ihm spricht: Der Herr sprach ja selbst: Es werde Licht.“
Das finde ich ziemlich blödsinnig. Ich bin im Aufsichtsrat der Victoria-Versicherung. Aber ich vertrete, ohne auch nur einen Zentimeter davon abzuweichen, was die Versicherungswirtschaft überhaupt nicht haben wollte: weitere Liberalisierung. Nein, wer von mir einen Rat erbittet, der kennt meine Haltung und weiß ganz genau, daß ich sofort hinausmarschiere, wenn ich das Gefühl hätte, das sei mit meinem Abgeordnetenmandat nicht kompatibel.
Sie sind die Symbolfigur für die gekaufte Republik, Millionen haben Sie dem Staat an Steuern hinterzogen: Sie sind, sagt „Spiegel“- Herausgeber Augstein, „der Spitzenpolitiker mit der bekleckertsten Weste“, der „rotzfreche Graf“.
Na und? Rudolf Augstein hat in den letzten 20 Jahren eine ganze Menge über mich geschrieben. Das hindert ihn nicht daran, was ich freundlich finde, mir zum Geburtstag Briefe zu schreiben oder Telegramme zu schicken und mir herzlich zu gratulieren. Die Parteienfinanzierung und auch der Vorwurf der Bestechlichkeit, von dem ich freigesprochen wurde, liegen lange zurück. Sie kriegen da nichts Neues raus.
Es muß Sie doch wurmen, daß Helmut Kohl über Jahre hinweg in Couverts insgesamt 515.000 Mark einstrich – in bar, dazu als eine Art Extraschmiere noch ein paar Dosen Kaviar von der Familie Brauchitsch: Er wurde Kanzler, er blieb Kanzler, womöglich wird er wieder Kanzler.
Ich habe mich niemals hingesetzt und gesagt: Weil du Gegenstand eines Verfahrens bist, muß das auch anderen widerfahren. Aber ich habe mir die Frage gestellt, wie es dazu kam, daß ausgerechnet ich ausgesucht wurde.
Geben Sie mir Ihre Antwort.
Da gibt es keine definitive Antwort. Sie könnte nur in Mutmaßungen bestehen, und die würden als Verdächtigungen ausgelegt – nein, das führt zu nichts.
Frau von Brauchitsch, die Politiker zur Genüge kennt, hat auf die Frage nach den wesentlichen Eigenschaften eines Politikers geantwortet: „gar keine. Er darf nicht einmal Charakter haben.“ In der politischen Führungsschicht sei die Haltung verbreitet, „alles mitzunehmen“.
Ich verstehe die Verbitterung von Frau von Brauchitsch. Aber so sehe ich das nicht.
Aber könnte es sein, daß nach dem Kaviar als Schmierstoff, den Affären um Lafontaine und Lambsdorff, dem Dienstwagen der Frau Süssmuth, den Amigos mit ihren Reisen und dem Gekungel mit Zwick die Wähler sagen: Politik – pfui Teufel! Ihr widert mich an – aber alle! Ohne mich!
Dieses Gefühl kann durch so etwas Nahrung erfahren. Das sollte nicht sein, aber es wird leider immer so bleiben – Politiker sind keine Idealfiguren, sie sind vielen Versuchungen ausgesetzt.
Ist Ihnen mal der Gedanke gekommen, daß es für die politische Hygiene besser wäre, Sie zögen sich aus der Politik zurück?
Ich habe Konsequenzen gezogen. Ich bin als Wirtschaftsminister zurückgetreten, um...
...als Parteivorsitzender 1988 ein Comeback zu feiern.
Ich habe mich demokratischen Entscheidungsprozessen unterworfen. Ich habe mich meinen Wählern gestellt und sie gefragt: Wollt Ihr mich noch? Ich habe die Partei gefragt: Bin ich für euch noch akzeptabel? Und die Antworten waren ja.
Sie haben eine Stimme, die Menschen zersägen kann.
Mir wird immer wieder gesagt, auch wenn ich ins Fernsehen gehe, sei doch freundlicher. Aber ich bin kein Beckenbauer, bei dem die Sonne aufgeht, wenn er einen Raum betritt. Ich bin auch kein Dampfplauderer, der losredet und daherschwadroniert, ob ihm die Welt gefällt. Wenn ich um eine Stellungnahme gebeten werde, gucke ich mir die Problemstellungen genau durch. Und dann geht es konzentriert darum, die Sachverhalte so präzise rüberzubringen, daß ich glaskar verstanden werde.
Ihre Botschaft ist unmißverständlich: Gürtel enger schnallen! Ihr Befehl an die Deutschen eindeutig: „Mehr arbeiten, weniger krankfeiern!“
Das war vor zwölf Jahren, als ich aus Japan zurückkam, und der Satz hat mich durch einen ganzen Wahlkampf getragen. Verheugen, der damals noch bei uns war, rief mich an und sagte: „Sie haben das richtige Motto gefunden!“ Und er hatte recht, er ist ja nicht dumm.
Seit einem Vierteljahrhundert ist die FDP an der Macht. 1969 wuchs jedes 73. Kind in einem Sozialhilfehaushalt auf, heute wächst jedes 11. in so unwürdigen Zuständen auf.
Ich will, daß so viele Menschen wie möglich durch eigene Arbeit ihren Lebensunterhalt bestreiten. Aber die Unternehmenssteuern in Deutschland sind die höchsten in Europa – so können wir dem Wettbewerb nicht standhalten. Die Arbeit muß billiger werden. Wir müssen die Subventionen an die Wirtschaft beschneiden, wir brauchen eine größere Flexibilität in der Arbeitszeit, wir brauchen eine Jahresarbeitszeitregelung...
Sie können sich die 60-Stundenwoche vorstellen?
Um amerikanische Zustände zu vermeiden, ich will nicht die Bronx hier, müssen wir Wege finden, wie wir wettbewerbsfähig produzieren können, und gleichzeitig dafür sorgen, daß die Menschen vernünftig leben können.
Die Sozialpolitik, schreiben Sie, „ist zur Spielwiese für Heilsprediger der sozialen Beglückung geworden“.
Das ist doch auch so. In welchem Land gibt es so etwas wie Sozialhilfe mit Rechtsanspruch? Und wenn ich sehe, daß Frau Hildebrandt für jedes neuangekommene Baby 1.000 Mark bezahlen will, dann finde ich das moralisch minderwertig. Das kommt mir vor wie ein Sprunggeld – so etwas gibt es in der Landwirtschaft...
Sie jedenfalls würden kürzen. Macht – das ist, was Sie mögen.
Ich habe mal gesagt, Politik ist eine gute Möglichkeit, seinem Affen Zucker zu geben. Ich mache jetzt doch nicht den Wahlkampf, widerwillig mich dahinschleppend. Politik macht mir Spaß. Es macht mir Spaß, mit den Leuten zu reden. Ich habe großen Spaß an Bundestagsreden und an Zwischenrufen.
1992 haben Sie den Spaß auch so begründet: „Als Parteivorsitzender hat man wirklich Einfluß.“ Ganz im Gegensatz zu den Ministern, die mit lästigem Alltagskram zugemüllt seien, mit Verwaltung, Terminen und unnötigen Verpflichtungen. Im Klartext hieß das: Die Kabinettsrunde ist ein Verein von Kopfnickern.
Das ist einfach der Regierungsstil von Helmut Kohl, der sich in zwölf Jahren herausgebildet hat. Ich finde ihn für die Ressortminister entmündigend: Das Kabinett in der Regierung Kohl ist eine eher notarielle Veranstaltung. Die Entscheidungen sind fertig und werden im Kabinett nur noch mit einem formellen Beschluß abgesegnet – das muß ja so sein, ist ja so vorgeschrieben. Aber im Kabinett wird kaum diskutiert. Die Kabinettssitzungen dauern bei Kohl, na ja, gerade mal eineinhalb Stunden. Bei Helmut Schmidt dauerten sie von 9 bis 16 Uhr.
Eifrig wie ein Musterschüler sollen Sie sich bei Schmidt immer gemeldet haben.
Ich habe es immer wichtig gefunden, mich nicht nur auf mein Ressort zu beschränken. Ich gehörte einem Organ der Bundesregierung an, und wenn die Regierung Entscheidungen traf, wollte ich mitreden, mit entscheiden. Aber bei Helmut Kohl ist das für die Ressortminister kaum mehr möglich. Die Gefahr besteht, daß der Kanzler der alleinbestimmende Herrscher ist und daß die anderen auf ihrem Fachgebiet erst was zu sagen haben, wenn sie wissen, wo der Kanzler hinwill, wie der Kanzler sich entschieden hat. In seiner Regierungszeit hat Kohl aus dem Bundeskanzleramt immer mehr ein Weißes Haus gemacht, eine Art Überregierung. Aber davon steht in der Verfassung nichts. In der Verfassung heißt es, daß die Ressortminister zuständig sind und nicht Abteilungen oder Abteilungsleiter des Bundeskanzleramtes. Es ist ein Stil, der in eine Präsidentialdemokratie hineinpaßt, aber nur sehr beschränkt in unsere parlamentarische Demokratie.
Das hört sich an, als ob Sie den „Verfassungsfeind“ Kohl...
Jetzt übertreiben Sie mal nicht.
...wegwählen wollten. Also: rein in die Ampelkoalition?
Es gibt keine Ampelkoalition. Da gibt es keine Basis, keinen Vorrat an Gemeinsamkeiten – weder mit den Grünen noch der SPD.
„Einen Meister der Profillosigkeit“ haben Sie Scharping genannt.
Die SPD – Gott sei Dank – tut genügend dazu, die Wahlen nicht zu gewinnen. Ich finde Rudolf Scharping beim besten Willen nicht überzeugend. Ich finde seine politischen Inhalte – denken Sie an die Diskussion um die Steuern, um die Sozialpolitik, sein Achterbahnfahren um das Tempolimit – völlig abwegig. Denken Sie an sein Benehmen nach der Wahl des Bundespräsidenten – unmöglich. Zum Bundeskanzler reicht es bei ihm nicht. Er muß noch üben, der Herr!
Eine absurd altmodisch anmutende Angst haben Sie vor den Grünen. Wer grün wählt, menetekeln Sie, mache aus den Deutschen „ein Volk von Jägern, Sammlern und Fallenstellern“.
Wenn ich lese, was in den Mannheimern Parteitagsbeschlüssen der Grünen zur Wirtschafts- und Energiepolitik drinsteht: Da habe ich den Eindruck, die Grünen hätten die Vorstellung, wir lebten in einem Land mit einer Mauer drum herum und wir könnten hier tun und lassen, was wir wollten. Ich kann da den Wählern nur sagen: Zu Risiken und Nebenwirkungen lesen Sie die Parteiprogramme.
Selbst die „Wirtschaftswoche“ gibt den Grünen, wo sie auf Landes- oder Kommunalebene mitregieren, die allerbesten Noten – sie wählte das rot-grün regierte Aachen zur „unternehmerfreundlichsten Stadt“. Herr Lambsdorff, ich fürchte, Sie haben sich politisch überlebt.
Es macht mir nichts, was Sie fürchten. Die Meldung der „Wirtschaftswoche“ bestätigt den neuen rot-grünen Trend des Blattes.
Jetzt wird's amüsant, Herr Lambsdorff. Die kapitalfreundliche „Wirtschaftswoche“ eine alternative Postille...
Ich kenne meine Geburtsstadt Aachen besser. Die rot-grüne Mehrheit hat dort die Finanzlage fast völlig ruiniert. Was wollen Sie denn mit den Grünen? Die Grünen wollen die Bundeswehr auflösen, sie wollen raus aus der Nato. Sie sind nicht koalitionsfähig. Auch mit dem Herrn Fischer können Sie nicht koalieren. Obwohl Sie mit dem Herrn ja alles haben könnten. Den interessieren seine Parteiprogramme überhaupt nicht. Sie wissen nie, wo sie mit ihm dran sind. Das einzig Zuverlässige bei ihm ist seine absolute Unzuverlässigkeit – ich meine das nicht moralisch, sondern politisch. Der Mann ist so wendig, daß er schon um die nächste Ecke rum ist, bevor Sie mit ihm anfangen zu streiten.
Zumindest in einem Punkt hätten Sie mit ihm wenig Probleme: in der Drogenpolitik. Rund 1.000 Milliarden Mark werden mit Drogen jährlich umgesetzt. Der staatliche Kampf dagegen hat vor allem eins produziert: mehr Süchtige, mehr Elend, mehr Stoff.
Ich glaube nicht, daß man mit repressiven Maßnahmen weiterkommt. Solange es diese unsinnigen Profite gibt, kommen wir mit den Methoden der Polizei und Justiz nicht zu Rande.
Sie wollen Drogen legalisieren?
Ich benütze nicht dieses Wort „legalisieren“. Ich sage: entkriminalisieren. Und das heißt, daß die Drogen unter ärztlicher Aufsicht kontrolliert abgegeben werden.
Ihr Koalitionspartner setzt weiter auf staatliche Repression. So kann man die Drogenpolitik durchaus als Symbol nehmen für das allgemeine „muddling through“. Wirkliche Probleme faßt man nicht an, letztendlich lautet die Devise: Mit Vollgas, gut angeschnallt, mit doppeltem Luftsack und – hoffentlich – Allianz- versichert ins Ende rasen.
Victoria-versichert, ist das klar? Aber was sollen diese apokalyptischen Untergangsszenarien? Wir haben das Ende der Geschichte nicht erreicht.
Im unbewußten, sagt Freud, sind wir alle von unserer Unsterblichkeit überzeugt. Aber was wir ab einem bestimmtem Alter nicht mehr verdrängen können, ist die Angst vor dem Tod: Wir sehen das Ende des Tunnels, aber wir sehen da kein Licht.
Ich sehe noch nicht dieses Ende. Aber für mich ist eine feststehende Glaubensgewißheit, daß es ein Leben nach dem Tod gibt. Ich habe keine Angst vor dem Tod, vielleicht wird das Sterben mühsam, schmerzhaft, quälend.
Was erwarten Sie, wenn alles vorbei ist?
Eben dieses Weiterleben im christlichen Sinne. Ich werde sicherlich vor meinem Richter mit einer sündhaften Bilanz erscheinen – oben oder unten. Aber deswegen habe ich keine Furcht, weil am Ende das Stichwort Gnade das entscheidende Lösungswort ist.
Bert Brecht hat für seinen Grabstein verschiedene Inschriften vorgeschlagen, etwa: „er hat vorschläge gemacht, wir haben sie angenommen. durch eine solche inschrift wären wir alle geehrt.“
Ich halte Brecht neben Shakespeare und Schiller für einen großen Dramatiker. Aber seine Lobpreisungen auf Stalins Säuberungsprozesse stören mich gewaltig. So wie hier diese Anmaßung ohne Demut. Nein, ich brauche keine Inschrift auf meinem Grabstein.
Nur Ihr Name soll da stehen?
Ja, nur Otto Graf Lambsdorff.
taz lesen kann jede:r
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