: Abschied von der russischen Prüderie
■ Der neue Nudistenstrand in Sankt Petersburg bricht mit der Tradition
Wer sagt denn, Nacktheit im Rußland der Stagnationsperiode hätte niemandem genützt? Wie sonst wäre es mir gelungen, die fischäugige Parteiinspektorin aus Chabarowsk loszuwerden? 1976, als ich mit der charmanten Tonja aus jener fernöstlichen Stadt im Wohnheim für JungwissenschaftlerInnen in Leningrad hauste? Tonja und ich hatten ein schrankgroßes Zimmerchen, die Inspektorin überwachte unsere Kommunikation. Als ich eines Tages ihre Visage studierte, während ich mich auszog, begann ich die Sache auf die Spitze – oder besser gesagt auf den Tanga – zu treiben. Mit dem Erfolg, daß Tonja und ich endlich ungestört tratschen konnten. Die Kontrolltante nämlich fürchtete Nacktheit wie eine Teufelin das Weihwasser.
Heute ist die „Gesellschaft für enthüllte Körper“ in der Stadt an der Newa eine sehr geachtete Organisation und verfügt über einen eigenen Strand – am Finnischen Meerbusen. Hier, bei den NudistInnen, treffen sich viele Stützen der „Grünen Partei“, einer der ersten, die in Sankt Petersburg offiziell registriert wurden. Durchaus ehrwürdige Traditionen hat die Nacktheit auch in der russischen Vorzeit: Seit Menschengedenken schwitzten im russischen Dorf Mann und Frau in derselben, zu ihrem Hofe gehörigen Banja – und keineswegs nur, um sich gegenseitig den Rücken abzureiben. Das allerdings beschränkte sich strikt auf den familiären Rahmen.
Ein Beispiel für den dörflichen Schock angesichts hauptstädtischer Nacktheit verdanken wir der Schriftstellerein Anastasija Zwetajewa, Schwester der Lyrikerin Marina Zwetajewa. Deren Vater, Professor für antike Philologie, gründete in Moskau zu Anfang unseres Jahrhunderts das berühmte Puschkin-Museum. Jahrelang sammelte er aufopferungsvoll Spenden und begleitete Marmor- Transporte aus dem Kaukasus für seine Idee: Russische StudentInnen, die sich keine Mittelmeer- Touren leisten konnten, sollten sich hier mit originalgetreuen Kopien der Statuen des klassischen Altertums vertraut machen. Am Vorabend der Eröffnung bat der rundgesichtige, siebzigjährige Hausmeister der Familie – frisch aus dem Dorfe zugezogen – das Museum des Herrn Professors ansehen zu dürfen. Der Hausherr stimmte zu und erzählte nachher den Töchtern: „Beim Anblick all meiner Heraklesse und Venusse hat dieser unaufgeklärte Mensch doch tatsächlich seine Augen mit dem Ellenbogen bedeckt. Und so – rot wie ein Krebs – ist er durch das ganze Museum gelaufen!“
Einige Jahre suchte ich nach einer adäquaten Übersetzung für das Wort „Prüderie“ im Russischen. Vergeblich, es gibt sie nicht. Offenbar halten es die RussInnen nicht für nötig, diesen eingefleischten Bestandteil ihrer Kultur auch noch beim Namen zu nennen. In der jahrzehntelangen Finsternis russischer Zugeknöpftheit gab es aber auch Lichtungen. In den 20er Jahren, als die kommunistische Partei die „freie Liebe“ propagierte, wurde durchaus auch Nacktheit reklamiert. Die ging von der Initiative für proletarische Kultur aus, dem „Proletkult“ – einer offiziellerseits ebenso hofierten wie verdächtigen Künstler- und Arbeiterbewegung. Parallel mit den stalinschen Vorbereitungen zum Zweiten Weltkrieg wurde, statt der Nacktheit, die heilige Familie wieder eingeführt. Wer, wenn nicht die Russinnen, sollte dem Land schon Soldaten gebären? Abtreibungen waren plötzlich Schwerverbrechen. Und die Nacktheit rangierte gleich danach. Inzwischen hat sie sich durch die Rüschen der Nachkriegs-Luftanzüge wieder ihren Weg ins Freie gebahnt. Der nackte Endspurt des letzten Jahrhunderts in Richtung auf unseres erfolgte in Rußland in den letzten fünf Jahren. Das zuletzt erreichte Etappenziel lautet: Nicht nur das nackte Individuum als Ganzes wird gewürdigt, sondern auch die Einzelteile. Beim diesjährigen Sommerfestival der Tageszeitung Moskowski Komsomoljez wurde nicht nur eine Gesamt-Miß“, ermittelt, sondern auch eine „Miß Brust“, „Miß Beine“ und „Miß Haare“. Die Gesamt-Miß“ bekam eine Mittelmeerkreuzfahrt als Preis. „Brust“, „Beine“ und „Haare“ durften nur nach Deutschland. Barbara Kerneck, Moskau
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