: Die Lust auf Kontrollverlust
■ Die Bilanz nach einem Vierteljahrhundert "freie Sexualität": Ohne Leistungsdruck ist's doch am schönsten. Viele, gerade langjährige Paare begnügen sich mit "low sex". Kein Grund zu Panik und Resignation, ...
Die Bilanz nach einem Vierteljahrhundert „freie Sexualität“: Ohne Leistungsdruck ist's doch am schönsten. Viele, gerade langjährige Paare begnügen sich mit „low sex“. Kein Grund zu Panik und Resignation, denn sie gibt es zum Glück noch immer:
Die Lust auf Kontrollverlust
Geben wir's zu: Die sogenannte sexuelle Revolution war Streß. Mindestens jede Nacht mit dem keinesfalls immer Geliebten ins Bett. Spätestens nach drei Monaten Monogamie die zwanghafte Diskussion über mehr Abwechslung. Die Liebe im Kopf galt ohnehin oft genug demjenigen, mit dem frau gerade nicht das Lager teilte. Zum Glück für die Frauen sind diese anstrengenden Zeiten jetzt vorbei. Klasse muß nicht Masse heißen: Why low sex is okay titeln heute amerikanische Frauenmagazine – immerhin ein Ergebnis ganze 25 Jahre nach „Pillenknick“ und „sexueller Befreiung“.
Diese Befreiung war ohnehin eher quantitativer Art, wenn wir mal ehrlich sind. Die chemische Verhütung ermöglichte häufigen Sex ohne Angst vor dem Eisprung und mit mehr Partnern ohne Angst vor den Folgen. Die stellten sich dann auch nicht mehr ein: In der Zeit zwischen 1969 und 1970 sank die Geburtenrate in der Bundesrepublik um 93.000 ab. Die Männer feierten die Pille damals als „Befreiung“ der Frau hin zu ihrer „eigenen Weiblichkeit“ (siehe Kasten), während ihre Partnerinnen mit Nebenwirkungen wie Krampfadern und Übelkeit zu kämpfen hatten.
Die neue chemische Freiheit schlug sich auf Umwegen auch in den Ergebnissen des konservativen Meinungsforschungsinstituts Allensbach nieder. 1976 bestanden bei Eheleuten nur noch 67 Prozent der Frauen und 68 Prozent der Männer auf Monogamie ohne Wenn und Aber. 1963 hatten dagegen noch 77 Prozent der Frauen und 84 Prozent der Männer absolute Treue vom Partner verlangt. Und heute? 1987 waren laut Allensbach wieder 80 Prozent der Frauen und 83 Prozent der Männer für absolute eheliche Treue. Ähnlich antworteten die Befragten im Jahre 1992, vor allem vor dem Hintergrund der Ausbreitung von Aids.
Also nix gewesen mit „sexueller Befreiung“? Nicht ganz. Zwar stellte sich in den 70er Jahren vor allem für experimentierfreudige Frauen bald heraus, daß die ständige nächtliche Präsenz unterschiedlicher nackter Männerkörper so unerotisch sein kann wie FKK in einem Ostseebad – zumindest dann, wenn keine erotische Phantasie im Kopf dazukommt. Einmal geweckt, blieb der hohe Anspruch auf ständiges sexuelles Glück jedoch bestehen.
Schlagen wir nach bei Allensbach: 1986 gaben nur 72 Prozent der verheirateten Männer und 66 Prozent der Frauen an, in ihrer Ehe sexuell zufrieden zu sein. 1963 hatten dagegen 84 Prozent der Männer und 71 Prozent der Frauen noch von sich geglaubt, ein ausgeglichenes eheliches Sexualleben zu führen. Kein Wunder also, daß zwar die „freie Sexualität“ aus der öffentlichen Diskussion verschwunden ist, plötzlich aber wieder viel die Rede ist von der Treue und der Untreue.
„Der in Forscherkreisen vorherrschende Konsens ist, daß Aids augenscheinlich kaum Auswirkungen auf die Zahl der außerehelichen Affären, wohl aber möglicherweise auf die Wahl der Geliebten und den Stil der Affären hat“, schreibt die kanadische Buchautorin Wendy Dennis. Im Klartext: Gefragt ist heute nicht mehr der one night stand , sondern der HIV- getestete Nebenliebhaber für mehr als nur eine Nacht.
Erkenntnisse dazu kommen aus den USA. Laut der amerikanischen Autorin Shere Hite (1987) hatten 70 Prozent der verheirateten Frauen während der Ehe auch schon mal mit jemand anderem als dem Angetrauten geschlafen. Das Problem der Hite-Umfragen: Wer die Fragebögen überhaupt zurückschickt, hat meist auch mit dem Thema zu schaffen und gehört damit zur Positiv-Auswahl. Bescheidenere Schätzungen auch hierzulande gehen daher von einem Viertel bis der Hälfte aller verheirateten Frauen aus, die nebenbei wenigstens einen Geliebten hatten – Tendenz steigend.
Meist geht es den Frauen mit Nebenliebhabern dabei keineswegs um den Ausstieg aus der Ehe, resümiert die Forscherin Dalma Heyn. Nach ihren Erkenntnissen beurteilen viele Frauen ihre Affären sogar als positiv für die feste Partnerschaft, denn oft würden mit anderen Liebespartnern verschüttete Lebensenergien mobilisiert. Allerdings, so Heyn, müßten die Affären geheim bleiben, um den erotischen Spaziergang für die familiäre Umgebung möglichst nervenschonend zu gestalten.
Wer will, kann aber auch ganz auf Sex verzichten, so die heutzutage immer öfter verkündete Botschaft. Sexueller Leistungsstreß wie in den 70er Jahren ist out. In ihrem neuen Buch rät die Münchner Autorin Barbara Schmidt betroffenen Paaren, bloß nicht mit Strapsen und ähnlichem Zeugs anzufangen, wenn die Lust nachläßt. „Je weniger wir tun, um die Lust anzuheizen, desto größer ist die Chance, daß sich die Lust spontan wieder einstellt – auch noch nach Jahren“ so ihr Credo.
Nicht wenige Paare leben heute mit low sex. Immerhin ein Fünftel der 30- bis 56jährigen Männer treibt es nicht mal mehr einmal in der Woche, laut Männer-Report der Frauenzeitschrift „Freundin“ (1993). Doppelverdienende Paare diskutieren nach einem Tag voller Arbeitsstreß abends eher über Marketing oder intrigante Kollegen, als sich gegenseitig auch noch mit ihren nackten Körpern zu beschäftigen.
Kein Grund zur Resignation – das erotische Begehren bleibt. Denn wann fühlt frau/man sich so lebendig wie dann, wenn sich alles im Kopf darum dreht, jemand bestimmtem die Kleidung vom Leibe zu reißen? Barbara Dribbusch
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