: Millimeterarbeit mit 250-Tonnen-Last
■ Oberbaumbrücke: Stahlbrücke für U-Bahn-Linie 1 nach Warschauer Brücke gelegt / Ab 9. November: Autolawine frei
Die Lücke in der Brücke zwischen Friedrichshain und Kreuzberg war nach knapp 50 Minuten dicht: Im Zeitlupentempo legten gestern zwei monströse Montagekräne das stählerne Kernstück der geplanten Verlängerung zwischen den U-Bahnhöfen Schlesisches Tor und Warschauer Brücke über die Stralauer Allee. Über die 78 Meter lange und fast neun Meter breite Brücke, die eigentlich eine Verlängerung der Oberbaumbrücke darstellt, sollen ab Herbst 1995 die Züge der U-Bahn-Linie 1 rattern.
Die beiden Kranführer, die von unter dem grauen Koloß postierten Bauarbeitern per Funk eingewiesen wurden, leisteten Millimeterarbeit mit rund 250 Tonnen an den Stahlseilen: In bautechnischer Filigranarbeit und mit viel Fingerspitzengefühl am Joystick schwenkten sie die gigantische Last behutsam ein, ehe sie diese unter dem Beifall mehrerer hundert Schaulustiger auf den drei Trägern ablegen konnten.
Bausenators Show
Die Schar der Neugierigen, viele darunter mit Fotoapparaten oder Videokameras ausgestattet, staunten wie auch der helmbewährte Bausenator Wolfgang Nagel (SPD) regelrecht Bauklötze – und ließen sich aber auch vom zeitweilig einsetzenden Regen nicht vertreiben.
Das Startzeichen für den Countdown hatte Nagel gegen 12 Uhr gegeben. Das aber war bloß Show für die Fotografen. Denn die rund 50 in Wechselschicht rund um die Uhr werkelnden Bauarbeiter aber hatten bereits am Freitag abend mit den Vorbereitungen für das „bautechnische Kunststück“ begonnen, wie Lutz Adam, Gruppenleiter für U-Bahn-Baumaßnahmen in der Senatsbauverwaltung, berichtete.
Zunächst sei die aus fünf Einzelteilen bestehende Konstruktion auf der weiträumig abgesperrten Warschauer Straße montiert worden. Dann hätten die Kräne mitsamt der Brücke insgesamt viermal verschoben werden müssen, bis endlich die richtige Ausgangsposition für das Einschwenken erreicht war. Das stählerne Monstrum wird in den nächsten Wochen verschalt, gleichzeitig werden Geländer angebracht und ein Laufgang gebaut.
Bis zur Inbetriebnahme des Streckenabschnitts sind nach Angaben Nagels weitere Abbruchmaßnahmen sowie die Verstärkung und Sanierung der Hochbahntrasse zwischen den Bahnhöfen Schlesisches Tor und Warschauer Brücke erforderlich. Auch müßten die Einrichtungen auf der Warschauer Brücke instand gesetzt und Betriebsräume in den Gewölben gebaut werden. Insgesamt sind für die Baukosten zur Wiederherstellung der erstmals 1902 befahrenen und seit dem Mauerbau 1961 stillgelegten Strecke rund 171 Millionen Mark veranschlagt.
Autoverkehr ab dem 9. November
Während sich Nagel nicht zum verschobenen Trassenbau für die Straßenbahn äußerte, kündigte er für die geplante und zudem heftigst umstrittene Öffnung der Oberbaumbrücke für den Straßenverkehr gleich einen geschichtsträchtigen Termin an: Der denkmalgeschützte Bau soll nach seinen Worten am 9. November, genau fünf Jahre nach der Maueröffnung, für den Autoverkehr freigegeben werden – mit entsprechend viel Tamtam natürlich.
Mit der Freigabe der vierspurig geplanten Trasse soll der insgesamt 18 Kilometer lange Innenstadtring, unter Kritikern als „Blechkarussell“ verschrien, geschlossen werden. Bürgerinitiativen erwarten für das Gebiet rund um das Schlesische Tor eine für die Anwohner entnervende Verkehrssituation: Dann werden die Brücke täglich durchschnittlich zwischen 50.000 und 60.000 Fahrzeuge überfahren. Frank Kempe
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen