: Demokratie zwischen Disneyland und Babel
■ Die „Zivilgesellschaft“ war gemeinsamer Nenner auf dem Politologen-Weltkongreß
Berlin (taz) – „Wozu Politikwissenschaft?“ Auf dem 16. Weltkongreß der Politologen in Berlin spielte die Frage, die ein gerade erschienener Sammelband als Titel trägt, keine Rolle. Zwar wurde die Zunft von der Epochenwende des Jahres 1989, die kein Politikwissenschaftler auch nur vorausgeahnt hatte, zutiefst verunsichert. Doch übte sich der Kongreß, abgekapselt im Raumschiff des Internationalen Congress Centrums (ICC), im business as usual.
Dennoch spiegelte sich die veränderte Weltsituation in fast jeder der über 200 Veranstaltungen. Dabei bezog sich die Wahl des Rahmenthemas „Demokratisierung“ nicht nur auf die ehemals staatssozialistischen Länder in Osteuropa, sondern ebenso auf Transformationsprozesse in den Entwicklungsländern und die Krise der etablierten Demokratien.
Zugleich scheinen sich die Politologen ihrer Grenzen nun stärker bewußt. Wie sehr Fragestellungen der Wissenschaft von Zeit und Ort abhängen, illustrierte die Präsidentin des Internationalen Politologenverbandes, Carole Pateman, am Rahmenthema des Kongresses: Während in den 60er Jahren noch die Frage diskutiert wurde, ob ein gutes Maß staatsbügerlicher Apathie für eine stabile Demokratie vonnöten sei, gelte aktive Partizipation nunmehr als Maßstab der Demokratisierung.
Heute definiert die Mehrheit der Wissenschaftler Demokratie also über die politische Kultur, die Institutionalisten sind in die Minderheit geraten. Demokratisierung verstehen die Politologen damit als Prozeß, an dem auch und gerade der Westen arbeiten muß, wie die engagierte Feministin Pateman hervorhob. Vom Ende der Geschichte, von dem der amerikanische Politologe Francis Fukuyama vor fünf Jahren schwadronierte, ist keine Rede mehr.
Im Gegenteil: Um pathetische Wortwahl nicht verlegen, sah Benjamin Barber die Demokratie in der Zange „zwischen Disneyland und Babel“, „zwischen McWorld und Dschihad“. Die Menschheit stehe, so Barber in seinem Vortrag über „Märkte und Demokratie“, vor der Alternative der totalen Herrschaft des Marktes einerseits und einer radikalen Ethnisierung andererseits. Märkte seien jedoch entgegen dem thatcheristischen Credo als politisches Instrument ungeeignet, „Privatisierung ist nicht Demokratisierung“. Wenn alle Menschen nur noch Konsumenten seien, gebe es keine Staatsbürger mehr, „und wie kann es ohne Staatsbürger Demokratie geben?“ Als Gegenmodell offerierte er „die Wiederherstellung der Souveränität der Zivilgesellschaft“.
Die „Zivilgesellschaft“, einst von den osteuropäischen Bürgerrechtlern aufs Tapet gebracht, war ohnehin der gemeinsame Nenner, auf den sich die Politologen verständigen konnten – ohne daß sie freilich definierten, was darunter im einzelnen zu verstehen sei. Die Zeiten, in denen politische Entscheidungen als ausschließlich von sozialen oder ökonomischen Rahmenbedingungen determiniert galten, sind vorbei. Mit dem Vertrauen in die Prognosefähigkeit ist auch der Glaube an die großen Theorien geschwunden. Im Mittelpunkt steht jetzt die Frage, wie die komplexen Gesellschaften und Märkte der Gegenwart überhaupt noch zu steuern, einem politischen Willen zu unterwerfen sind – zum Beispiel in kleineren Einheiten.
Das universale Demokratisierungsversprechen wird aber einstweilen nur in Form von nationalstaatlichen Bürgerrechten eingelöst. In einer Zeit globaler Wanderungsbewegungen erfordere dies „ein grundsätzliches Überdenken dessen, was Staatsbürgerschaft bedeutet“, betonte Carole Pateman, die im multikulturellen Los Angeles lebt. Mit dem deutschen Prinzip des ius sanguinis jedenfalls sei eine multikulturelle Gesellschaft nicht zu machen. Unversehens werden die Ideen der Austromarxisten um Karl Renner wieder aktuell.
Zum Demokratisierungsprozeß gehört auch der Umgang mit der Vergangenheit. Dem deutschen Modell eines radikalen Elitenaustauschs, durch Personalimport aus Westdeutschland ermöglicht und im Bereich der Politikwissenschaft lupenrein durchgeführt, standen Wissenschaftler aus anderen Ländern verständnislos gegenüber. Der frühere Solidarność-Aktivist Jerzy Holzer plädierte für den Weg, den Polens Ministerpräsident Mazowiecki 1989 propagiert hatte – „das System mißbilligen, aber nicht die Menschen“. Bleibt die Auseinandersetzung mit der Vergangenheit aber aus, kommt es später zu krisenhaften Eruptionen. Das illustrierten der Franzose Benjamin Stora und Hajo Funke vom Berliner Otto-Suhr-Institut anhand der kolonialen Vergangenheit Frankreichs und des „kollektiven Beschweigens“ im Deutschland der fünfziger Jahre. Ralph Bollmann
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