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■ Die russische Armee verläßt BerlinVerklärter Abschied

Der russische Schriftsteller Daniil Granin hat vor kurzem mit deutschen Schülern über die Vergangenheit gesprochen, und er war verblüfft, was er da zu hören bekam. In der Vorstellung der jungen Leute hätten „die Deutschen damals, in jenem fernen Zweiten Weltkrieg, gemeinsam mit den Verbündeten gegen die Russen gekämpft“. Das Spannende an der Episode ist nicht so sehr die historische Unkenntnis mancher Schüler, sondern der darin enthaltene Zeitgeist. Diese Geschichte verrät alles über die Zwiespältigkeit der Gefühle, die die Deutschen nach dem Zusammenbruch des Kommunismus empfinden: Sind „wir“ jetzt, da sich die einst ruhmreiche Rote Armee ganz aus Deutschland zurückzieht, also irgendwie „verloren“ hat, so etwas wie die „Sieger“? Wie verhalten „wir“ uns dann gegenüber den „Verlierern“? Nirgendwo läßt sich dieser beklemmende Zwiespalt deutlicher empfinden als in Berlin.

Die Politik lobt die russischen Truppen für ihren schnellen, vorbildlichen Abzug und findet, daß man die Freiheit in Berlin jetzt mit Händen greifen könne. Kein Wort darüber, daß die vorfristige Heimfahrt auch mit viel Geld erkauft wurde. Kein Wort darüber, daß man die „Freunde“ (Kohl) nicht zusammen mit den West-Alliierten verabschiedet. Kein Wort darüber, was man mit der Freiheit anzufangen gedenkt.

Viele Menschen in dieser Stadt entziehen sich diesem Zwiespalt, indem sie dem Muster folgen, das die Politik ihnen vorgibt: Über Nacht sind die Soldaten zu „Freunden“ geworden. Und diese Verlogenheit ist dort grotesker, wo das schlechte Gewissen, daß man sich als Sieger fühlt, größer ist – im Westen. Nicht das Neue Deutschland, sondern Bild titelte gestern in kyrillischen Buchstaben: Tschastliwowo puti, soldaty! Glückliche Reise, Soldaten!

Mit der Realität in Berlin hat diese Mischung aus Theater und Therapie nichts zu tun, nicht im Osten und nicht im Westen. Für den Rückzug der russischen Armee haben sich die Menschen genauso wenig interessiert wie für deren Anwesenheit. Sie mußten auch nicht, weil beides mit ihrem unmittelbaren Alltag nur wenig zu tun hatte. Hier wie dort verklären die Berliner die „guten alten Zeiten“, und sie meinen damit wohl die Sicherheit der Frontstadt – nicht so sehr die militärische, für die die Alliierten standen, sondern eher die Sicherheit der Erwartung. Jetzt ist Berlin, wie die FAZ treffend schrieb, eine entsicherte Stadt. Alles ist wieder offen. Jens König

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