Vogelfrei!

Jacques Rivette hat die Heilige Johanna unter einem Berg von Allegorien hervorgelockt: „Jeanne la Pucelle“ ist reinster Anti-Barock. Sandrine Bonnaire ist on the road again  ■ Von Mariam Niroumand

Bei erster Ankündigung des Projekts möchte man die Hände überm Kopf zusammenschlagen. Ach Gatt! Ein Historienfilm über eine Nationalheldin soll nun gegen die Cyborgs aus Hollywood fechten; Schilder sollen klirren und Bischofsmützen wackeln, während The Arnold mit einem D-III-Jet um die Skyline von Chicago rast – da hat das europäische Kino doch schon verloren, bevor die schöne Jungfrau überhaupt ihren Wimpel ausgerollt hat. Zumal bekannt ist, wie die Sache ausgeht. Gemach!

Wer sich auch nur die ersten zehn Minuten auf das insgesamt fast sechsstündige Werk einläßt, wird finden, daß plötzlich ganz unklar ist, wie diese Sache ausgeht, um welche Sache es sich überhaupt handelt und wo man sich positionieren soll gegenüber einer solchen Jungfrau. Der Pfad war denkbar ausgetrampelt. Jeannes Zeitgenossen schrieben ihr schon bald nach ihrem Feuertod und ihrer Rehabilitation 1456 die ersten Allegorien hinterher. Diesem Schicksal, allegorisiert und metaphorisiert zu werden, ist sie bis zu Bert Brechts „Die Heilige Johanna der Schlachthöfe“ nicht mehr entgangen, einem Stück, in dem von ihr nicht mehr übrig blieb als ein naiver Büttel der Reaktion, der mit den Worten auf den Lippen stirbt „es hilft nur Gewalt, wo Gewalt herrscht/ es helfen nur Menschen, wo Menschen sind.“

Jeanne, die Amazone, eine Schwester Judiths, Deboras oder Penthesileas; Jeanne, die Wunderheilerin, die sich dann bei Holinshed 1587 als gemeine Buhlerin entpuppt, die eine Schwangerschaft vortäuscht, um der Haft zu entkommen; Jeanne, das weiche Weib, das schließlich durch die Hand einer Nebenbuhlerin fällt – natürlich waren es die Spanier, die zuerst ein „Love Interest“ in die Chose einbauten. Auf den Wunderglauben mußte zwangsläufig der Spott der Aufklärung folgen: In Voltaires Gedicht „La Pucelle d'Orleans“ sind die Ritter Narren und Jeanne eine derbe Stallmagd, die von ihnen heiß begehrt wird, so daß der Kern des Stücks der Kampf um ihre Keuschheit ist ... Interessanterweise waren es gerade die Engländer, die den Stoff aus diesem U-Sumpf wieder in den E-Bereich heraufzogen: Ein gewisser Southey entledigte sich in „Joan of Arc“ der übernatürlichen Elemente, der Stimmen und so weiter, und reinkarniert die Heroine als fleischgewordenen Volkswillen. Nur so konnte sie im 19. Jahrhundert zur Nationalheldin der Republik Frankreich avancieren, eine Schwester von Marianne ebenso wie von Jesus, fürs Gemeinwohl märtyriert. Abenteuerromane, Picaresken, Epen und Balladen mußten natürlich mit Schiller ein Ende haben, der den teutschen Widerstreit zwischen Idee und Welt oder so ähnlich als den zwischen Mann und Mission darstellt: Bei ihm verliebt sich Joanie in einen geheimnisvollen schwarzen Ritter aus dem Lager der Engländer.

Von den über vierzig Filmvarianten des Stoffes waren die von Dreyer und die von Bresson für Rivette und auch für seine Hauptdarstellerin die wichtigsten. Während aber Dreyer alle Schlachten, Zweifel und Passionen in die Totalen vom Gesicht seiner Hauptdarstellerin verlegt (und dadurch völlig enthistorisiert), bleibt Rivette fast den ganzen Film über in der Halbnähe. So hat Jeanne, die sich selbst „La Pucelle“, die Magd, die Maid, nannte, stets ein Umfeld: das Gehöft, auf dem der Film ihr zum ersten Mal begegnet, das Soldatenlager, auf dem sie zwischen ihren Jungs liegt, die kleinen Kapellen, in denen sie unterwegs betet, der Hof, die Gerichtssäle, in denen man gegen sie intrigiert, der Kerker, in dem ungehobelte Burschen über sie herfallen.

Die Rivettesche Verschwörung, Strukturprinzip aller seiner Filme, in deren Mitte ein sorgsam gehütetes Frauengeheimnis schlummert, umgarnt Jeanne wie Spinnfäden. Die Engländer, die feindlichen Truppen, sind seltsam unsichtbar; es geht Rivette eben mehr um den Krieg im Innern. Der von Jeanne zur Krönung in Reims geführte König, Charles VII., schließt unter den Einflüsterungen seiner Hofschranzen Tremoille und de Chartes einen Waffenstillstand mit den anglophilen Burgundern und löst die Krönungsarmee auf. Jeanne wird von der königlichen Kriegsherrin zur Bandenführerin; eine Sekunde lang muß man an Ulrike Meinhof denken.

Für ein paar Ecu mehr liefern die Burgunder sie schließlich an die Engländer aus, der Rest ist bekannt: Man steckt sie in ein weltliches Männergefängnis, während man ihr doch einen kirchlichen Prozeß macht. Ganz oben auf der Widerrufungsurkunde, die sie, in Angst vor der Folter, zitternd unterschreibt, wird als erstes von ihr gefordert, wieder Frauenkleider zu tragen. Als sie das tut, fallen die Schergen über sie her. Als sie daraufhin ihre Männerkleidung zurückverlangt, wird sie wegen der Verletzung biblischer Kleidungsgebote zum Tod auf dem Scheiterhaufen verurteilt. Jeanne, eine Drag Queen.

Kaum eine Verfilmung dieser Biographie verzichtet darauf, aus der Schlußszene auf dem Scheiterhaufen eine Golgatha-Revelation zu machen; die Augen gen Himmel gekehrt, sagen Jesu Schwestern noch einmal my heart belongs to Daddy und scheiden dahin, vom Rauch dem Blick entzogen, wie emporgehoben nach Hause. Bei Rivette sieht man, wie Jeannes Füße die Holztreppen emporstolpern, daß es regnete und dann nicht mehr viel – Ende eines Menschen, den man kannte irgendwie.

Wer mal in einer ansehnlich großen Runde „Stille Post“ gespielt hat, kann sich in etwa ein Bild von dem Rhythmus machen, in dem Rivette erzählt. Alles geht leise vor sich, selbst in den Schlachten hört man noch, wie eine einzelne Leiter gegen die Festungsmauer schlägt, das schwere Fahnentuch im feuchten Morgennebel flattert oder eine Krähe ruft.

Der Gang der Dinge wird, wie ein antiker Prozeß, von den Zeugenaussagen strukturiert, die immer wieder zwischen die Episoden gefügt sind. Das hat glücklicherweise nichts Brechtisches und läßt den Film auch nicht ins Stottern kommen, sondern versucht sich eben an einer Art von Kino, das den Anschluß an orale und schriftliche Medien nicht verlieren will. Daß Jeanne Analphabetin war, und wie ihr die Feder übers Papier kratzte, ist deshalb keineswegs ein Nebengleis, sondern eine Art Leitmotiv des Films.

Im Reich dieser Zeichen sind die Stimmen, die Jeanne ihre Aufträge geben, natürlich ein zentrales Thema: Bei Rivette sind sie weder mythisch überhöht (man stelle sich das Ganze in den Händen von Kieslowski und seinem Höllenmusik-Meister Preisner vor) noch zum Hegelianischen Volks- oder Geschichtsauftrag bagatellisiert, sondern eine Art „inneres Woodstock“. Ganz lieb sind sie zu ihr, Saint Catherine oder Saint Michel; und die Lager, in denen Jeanne mit ihren Jungens lebt, erinnern auch an gewisse geweihte Schlammfelder. Während die Inquisition wissen will, ob ihre Heiligen auch die richtigen Attribute, die Waagen, Stäbe und Aureolen dabeihatten, kommt es Jeanne nur auf die Klarheit der Message an, das Hier und Jetzt. Ein paar Mal im Film wollen Leute, daß sie eine Wunde berührt, eine Reliquie heiligt oder anderer Leute Visionen beiwohnt. Heftig, zickig, fundamentalistisch weist sie jede Idolatrie weit von sich und insistiert stets auf der Abstraktheit ihrer Zeichen; sie ist keine Voodoo-Child.

Bonnaire, die an dieser fast sechsstündigen 10-Millionen-Produktion sichtlich „gewachsen“ ist, hat den Faden von „Vogelfrei“, ihrem und Agnès Vardas Tramperfilm, wieder aufgenommen. Wieder so eine vaterlose Gesellin, eine schöne Querulantin on the road von Domremy über Vaucouleurs, Chinon, Orléans bis nach Paris und schließlich Rouen. Sein Originaltitel „Sans Tout Ni Loi“ hätte auf die beiden Teile von „Jeanne la Pucelle“ eben auch nicht schlecht gepaßt. Mit der Errettung des ungesteuerten Individuums bringt das europäische Autorenkino natürlich auch sich selbst in Sicherheit.

„Johanna die Jungfrau“, Film in zwei Teilen. Kamera: William Lubtchansky. Mit: Sandrine Bonnaire, André Marcon, Didier Sauvegrain u.a. Frankreich 1993