■ Bücher klein: Blick nach Osten
Wer etwas über die intellektuelle Debatte in der Türkei erfahren will muß lange suchen. Diese Lücke versucht nun ein Buch zu füllen, das kürzlich von Zafer Șenocak herausgegeben wurde. „Der gebrochene Blick nach Westen“ soll Positionen und Perspektiven türkischer Kultur aufzeigen und dem deutschen Leser einen Überblick über die Probleme der türkischen, nach Westen orientierten Intelligenz verschaffen.
Das gelingt nur zum Teil. Die große kulturelle Frage der Türkei heute, die Auseinandersetzung zwischen islamischer Tradition und westlichem Denken, wird nicht systematisch bearbeitet. So würde man nach einem langen Beitrag über religiöse Publikationen gerne erfahren, welchen Einfluß diese Traktate wirklich haben. An anderer Stelle wird die bedrohliche Zunahme religiöser Schulen beschrieben, ohne daß wir erfahren, ob es darauf auch eine Antwort aus dem laizistischen Lager gibt. Murat Belge, einer der bekanntesten linken Publizisten des Landes, beschreibt zwar sehr eindringlich, warum die kemalistische politische Kultur des Landes einen „religiösen Politkult“ hervorgebracht hat, gibt aber keinen Hinweis darauf, ob nicht auch Ansätze da sind, den Kemalismus als Staatsdoktrin fallenzulassen, ohne dafür die Scharia einzuführen. Ist ein laizistischer türkischer Staat ohne die Militärs als Gralshüter einer überholten Ideologie überhaupt nicht denkbar?
Das Buch liest sich insgesamt wie eine Aufforderung, die Kinder der Aufklärung in der Türkei vom Westen aus ein bißchen zu unterstützen. Aber diese Aufforderung bleibt stumm. Zu dem gebrochenen Blick nach Westen gehört spiegelbildlich das zwiespältige Verhalten der kritischen Öffentlichkeit hier. Gehört die Türkei nun zu Europa oder nicht – soll sie Mitglied der EU werden oder draußen bleiben? Auf diese Frage sollten die bedrängten Verfechterinnen einer zivilen und toleranten Gesellschaft in der südöstlichen Ecke Europas eine Antwort einfordern. Jürgen Gottschlich
„Der gebrochene Blick nach Westen“. Herausgegeben von Zafer Șenocak, Babel Verlag 1994, 360 Seiten
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