: „Aufs I-Tüpfelchen verzichtet“
Zwei Neuerscheinungen untersuchen Prozesse wegen sexuellen Mißbrauchs: Unzureichende Sachaufklärung und die Unterstellung einer Mitschuld der Opfer sind das Dilemma ■ Von Julia Albrecht
„Ich sage ja nicht, steckt den in den Knast: Ich will das nicht. Ich hab das nicht angezeigt, ich will nur, daß man mir glaubt“, sagt die 14jährige, die in mehreren Fällen von ihrem Vater sexuell mißbraucht wurde.
In den Worten steckt das ganze Dilemma von Mißbrauchsprozessen. Die Skepsis gegenüber den Aussagen von Kindern oder Jugendlichen wirkt sich bei Mißbrauchsprozessen direkt zugunsten des Täters und zuungusten des Opfers aus. Für ein Opfer kann der Freispruch des Täters oder dessen nur geringe Verurteilung bedeuten, daß es in seiner Opferrolle nicht ernst genommen wird. Wo kein Täter, da kein Opfer. Diese Tendenz, die in strafrechtlichen Verfahren strukturell angelegt ist, wirkt sich bei Mißbrauchsprozessen intensiver aus als zum Beispiel bei einem Prozeß wegen Sachbeschädigung oder Unterschlagung.
Das liegt an der Intimität der Situation. Ein Kind, das von seinem Vater mißbraucht wurde und dessen Vater dann im Verfahren mangels Beweisen – und in den seltensten Fällen genügt allein die Aussage des Opfers – freigesprochen wird, wird abermals Opfer. Zu diesem Ergebnis gelangen unabhängig voneinander zwei Autorinnen, die die Gesetze und den Prozeßalltag bei Mißbrauchsprozessen analysiert haben.
Sabine Kirchhoffs Buch ist eine Dissertation, die im Kontext eines Graduiertenkollegs zum Thema „Geschlechterverhältnis und sozialer Wandel“ entstanden ist und in vielen Schleifen und Zitaten die Ergebnisse von 15 Prozeßbeobachtungen nachvollziehbar, nicht aber leicht lesbar macht. In einem zweiten Band hat sie die wörtlichen Protokolle der Verfahren publiziert. Friesa Fastie ist es gelungen, in einem kleinen handlichen Buch 23 Prozesse und die geltenden Gesetze präzis zu analysieren. Die einzige Geschmacksverirrung findet sich zu Beginn des Buches, wenn sie aus der Perspektive eines mißbrauchten Kindes dessen Gefühle bei einer Gerichtsverhandlung imaginiert.
Das Ergebnis, zu dem die Autorinnen gelangen, stimmt pessimistisch. Nicht nur die Gesetze sind reformbedürftig, vor allem den Richtern mangelt es am nötigen Fein- und Sprachgefühl, vor allem aber an der hinreichenden Disziplin, eine umfangreiche Beweisaufnahme überhaupt auch nur zu versuchen und damit dem Gebot der Wahrheitsfindung nachzukommen.
„Wir haben uns recht schwer getan bei der Ergebnisfindung. Es gab verschiedene Einlassungen, die des Angeklagten und die der B (des Opfers). Es spricht viel dafür, daß die Einlassung der B richtig ist. Doch haben wir bewußt darauf verzichtet, hier und heute das letzte I-Tüpfelchen der Wahrheit zu erforschen.“ Bei diesem Verfahren wurde der Angeklagte zu zwei Jahren auf Bewährung verurteilt. Er hatte die Taten als Liebesbeziehung bezeichnet. Das Mädchen, seine Schwägerin, war von ihm schwanger geworden und hatte ein Kind bekommen.
Für sie war es kein Liebesverhältnis. Vielmehr berichtet sie von ihrer Angst vor dem Täter und der Unmöglichkeit, sich jemandem anzuvertrauen. „Ich war am Schlafen. Da kam er nachts zu mir. Ich fragte, was willst du. Er sagte, ich möchte mich ins Bett legen. Ich hatte Angst. Da hab ich ihn gestoßen. Er sagte, ich verpetz dich, daß du rauchst. Wenn du petzt, passiert was.“ Das Urteil indes, stützt sich auf die Täteraussagen: „Wir mußten die Schilderung des Täters zugrunde legen und sind daher von einer Beziehung zwischen ihm und B (dem Opfer) ausgegangen.“ Außerdem sei zugunsten des Opfers davon auszugehen, daß „das Mädchen ein halbes Jahr später vierzehn Jahre alt und die Sache völlig straffrei gewesen wäre.“
Ein fatales Rechtsverständnis äußert sich in folgender Urteilsbegründung: „In diesem Verfahren geht es nicht darum, die Wahrheit herauszufinden, sondern um die Beantwortung der Frage, was sich juristisch begründen läßt.“ Falsch. Ein Hauptmoment jedes Strafprozesses ist die Wahrheitsfindung. Paragraph 244 Absatz 2 der Strafprozeßordnung (StPO) normiert: „Das Gericht hat zur Erforschung der Wahrheit die Beweisaufnahme von Amts wegen auf alle Tatsachen und Beweismittel zu erstrecken, die für die Entscheidung von Bedeutung sind.“ Erst wenn trotz umfassender Beweisaufnahme die Schuld des Täters nicht zu beweisen ist, greift der sogenannte Zweifelsgrundsatz: in dubio pro reo. So mutet es merkwürdig an, wenn ein Richter in einem Verfahren den Staatsanwalt davon überzeugen will, daß er auf eine weitere Beweisaufnahme verzichten möge. „Denken Sie an den Zweifelsgrundsatz“, sagt er, „die Angeklagten profitieren nun einmal davon, daß wir kindliche Zeugen haben – das ist das Dilemma.“ Das Dilemma aber ist ein anderes. Der Zweifelsgrundsatz soll eben nicht die Beweisaufnahme verkürzen. Er greift erst dann, wenn nach vollkommener Sachaufklärung noch immer Zweifel an der Schuld des Täters bestehen.
Es lohnt sich, die Arbeiten zu studieren, um das Ausmaß von Ignoranz und Unkenntnis der Gerichte zu verstehen. Die wenigen Normen, die es zur Unterstützung von Opfern gibt, werden allzuoft nicht angewandt. So verzichten die Richter auf die Möglichkeit, den Angeklagten und die Öffentlichkeit bei der Vernehmung des Opfers hinauszuschicken. Sie sehen es nicht gerne, wenn ein Opfer während seiner Vernehmung eine Vertrauensperson mitbringt, und sie teilen den Opfern nicht mit, daß sie ihre Position dadurch verstärken könnten, daß sie eine Nebenklage anstrengen. Eine Nebenklagevertretung würde den Opfern Akteneinblick ermöglichen und sie auf den Prozeß vorbereiten.
Die Probleme von Mißbrauchsprozessen, vor allem die negativen Auswirkungen für die Opfer, sehen die Autorinnen schon in den gesetzlichen Vorschriften angelegt. Nach Paragraph 174 Absatz 4 des Strafgesetzbuchs kann von einer Bestrafung wegen sexuellen Mißbrauchs von Schutzbefohlenen abgesehen werden, „wenn bei Berücksichtigung des Verhaltens des Schutzbefohlenen das Unrecht der Tat gering ist“. Hier werde, so Friesa Fastie, „durch die Herstellung einer kausalen Verbindung von Opfer- und Täterverhalten die Möglichkeit einer Übertragung der Verantwortung für das Verbrechen vom Täter auf das Opfer begünstigt“.
Diese Übertragung zeige sich in den Prozessen vor allem durch die Fragen an die Opfer. Sie suggerierten eine wie auch immer geartete Mitschuld der Opfer: „Haben Sie sich vielleicht nicht doch einmal seelisch oder körperlich so gewehrt, daß er das gemerkt hat?“ Und ein anderer Richter: „Hat er dir mit Prügeln gedroht?, Hast du gesagt, das tut weh, er soll es sein lassen?, Hast du geschrien? Hast du gerufen? Hättest du nicht rufen können? Hast du hinterher jemandem erzählt? Deiner Schwester hast du nichts erzählt?“ Zur Aufklärung der konkreten Tat dienen solche Fragen meist nicht. Auf Umwegen kommen sie dem Täter zugute.
Zumindest erinnern sie an das altbekannte Problem von Vergewaltigungsprozessen, in denen das Verhalten der Frauen den Tätern zugute gehalten wird, indem die Frauen zu Verführerinnen und die Täter entsprechend zu den Verführten werden. „Wenn eine Frau dem Verlangen lediglich mit Worten, sei es auch eindeutig, widerspricht, sich aber gegen das Ansinnen nicht körperlich wehrt, so wird der Mann in der Regel annehmen und annehmen dürfen, daß sie trotz des geäußerten Widerspruchs mit seinem Verhalten letzen Endes einverstanden ist“, urteilte der Bundesgerichtshof in einer früheren Entscheidung, die Sabine Kirchhoff zitiert. Die Autorin legt nahe, daß Mißbrauchsprozesse sich nur graduell und nur in Ausnahmefällen davon unterscheiden.
Ein weiteres Indiz für die Voreingenommenheit der Richter zugunsten der fast ausnahmslos männlichen Täter sieht Friesa Fastie in der Wortwahl von Richtern und Anwälten, seltener Staatsanwälten. Immer wieder würden Opfer mit „Angeklagte“ angesprochen. „Ein Versprecher, den ich häufig erlebt habe“, so die Autorin. Gefährlich auch jene Bezeichnungen, die die Zwangssituation zwischen Täter und Opfer vernebeln: Fast ausnahmslos werden die Mißbrauchstaten als „Beziehung“, „Geschlechtsverkehr“; „Verhältnis“, „Beischlaf“, „sexueller Kontakt“ bezeichnet.
Auf die Diskussion über den „Mißbrauch des Mißbrauchs“ sind beide Autorinnen nicht eingegangen. Zwar arbeitet Sabine Kirchhoff in engem Zusammenhang mit dem Verein „Wildwasser“, der 1993 einen umfangreichen Bericht seiner Arbeit herausgegeben hatte und danach von Katharina Rutschky hart kritisiert worden war. Vor allem die stolze Parteilichkeit der Beraterinnen, die letztlich zu einer Ideologisierung des Themas führe, war von Rutschky scharf verurteilt worden. So wichtig die Diskussion ist, in diesen Arbeiten brauchte auf sie nicht eingegangen zu werden. Wenn es überhaupt zu einer Anklage wegen Mißbrauchs kommt, liegen bereits derart viele Indizien vor, daß der Verdacht, hier werde leichtfertig eine Tat unterstellt, nicht naheliegt. Das zeigen auch die Zahlen: Von 100 Fällen gelangen nur 16 zu Anzeige. In 12 dieser Fälle kommt es zu einer Verurteilung, davon nur in 2 Fällen zu einer Gefängnisstrafe. Die übrigen Täter erhalten Bewährungsstrafen.
Friesa Fastie hat einige Reformvorschläge, die die Position des Opfers im Prozeß stärken könnten: Anhebung der Mindeststrafe bei sexuellem Mißbrauch auf ein Jahr. Streichung des minder schweren Falles. Obligatorische Entfernung des Angeklagten während der Vernehmung des Opfers, es sei denn, das Opfer ist mit seiner Anwesenheit einverstanden. Ausschließliche Anklageerhebung vor den Landgerichten. Beiordnung einer Nebenklagevertretung von Amts wegen. Gesetzesreformen allerdings sind nicht vorgesehen. Die kürzlich veränderte Verjährungsfrist für sexuellen Mißbrauch – sie beginnt nun erst mit dem achtzehnten Lebensjahr des Opfers zu laufen – dürfte auf absehbare Zeit die letzte Reform sein.
Friesa Fastie: „Zeuginnen der Anklage“. Orlanda Frauenverlag 1994, 173 Seiten, 26 Mark
Sabine Kirchhoff: „Sexueller Mißbrauch vor Gericht“. Band 1: „Beobachtung und Analyse“; 303 Seiten; Band 2: „15 Gerichtsprotokolle“; 317 Seiten. Leske + Budrich, jeder Band 29,80 Mark
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