: Waffenstillstand in Bandit Country
Crossmaglen ist eine Hochburg der IRA. Der Armeeposten wird aus der Luft versorgt – über Land trauen sich die Soldaten ihrer Majestät seit Jahren nicht in dieses Gebiet ■ Aus Crossmaglen Ralf Sotscheck
Business as usual“, sagt der englische Soldat kurz angebunden. Er ist Anfang zwanzig, sein Gesicht ist mit brauner Farbe verschmiert und er trägt einen grün-braunen Tarnanzug, auf dem Rücken einen Tornister, an den Füßen schwere Stiefel. Der Soldat kauert hinter einer Mauer, zwei Kollegen haben sich in einem Vorgarten auf der gegenüberliegenden Straßenseite verschanzt und beobachten die Umgebung durch die Zielfernrohre ihrer Schnellfeuergewehre, während ein vierter einen Lieferwagen kontrolliert, der auf den Marktplatz der nordirischen Grenzstadt einbiegen will: Crossmaglen am ersten Tag des Waffenstillstandes der Irisch-Republikanischen Armee (IRA). „Für uns hat sich bis jetzt nichts geändert“, sagt der Soldat, „wir haben keine neuen Befehle von oben erhalten.“ Fühlt er sich jetzt etwas sicherer? „Ich traue der IRA nicht über den Weg“, sagt er und winkt ab.
Crossmaglen liegt im Süden der Grafschaft Armagh – eine Gegend, die bei der britischen Armee als „Bandit Country“ bekannt ist. Die Grenze zwischen der Republik Irland und Nordirland ist in diesem Teil der Insel nicht markiert. Wenn man die großen, ausgesägten Buchstaben „IRA“ in den irischen Landesfarben grün, weiß und orange sieht, die an jeden zweiten Telegrafenmast genagelt sind, weiß man, daß man in der britischen Krisenprovinz ist. Am Ortseingang von Crossmaglen hängt ein selbstgebasteltes „Verkehrsschild“: Ein rotes Dreieck mit der Silhouette eines maskierten IRA- Mannes, der mit einem Gewehr bewaffnet ist. Darunter die Worte: „Heckenschütze bei der Arbeit.“ Der Soldat, der im vergangenen Dezember vor Murtaghs Bar erschossen wurde, war der 18. Armeeangehörige, der im Laufe des nordirischen Konflikts seit 1969 auf dem Marktplatz von Crossmaglen sein Leben ließ.
Das große Bronzedenkmal auf dem Markt, das die Einwohner errichtet haben, ist jedoch den Toten der IRA gewidmet. „Bandit Country“ ist die Hochburg der IRA, die Soldaten haben sich in den Forts von Crossmaglen und drei Nachbarstädten zurückgezogen. Die Befestigungsanlagen und die rund zwei Dutzend Beobachtungstürme werden mit Hilfe von Hubschraubern versorgt. Seit die IRA 1979 zwei Panzerwagen in die Luft gesprengt und dabei 18 Fallschirmjäger getötet hat, ist der Fahrzeugverkehr der Armee eingestellt. Zur Versorgung der Armeeanlagen und zur Observation der Gegend sind 32.000 Hubschrauberflüge im Jahr notwendig, Bessbrook nordöstlich von Crossmaglen ist der verkehrsreichste Heliport Europas. Manchmal landet ein Hubschrauber mitten auf der Landstraße und spuckt eine Handvoll Soldaten aus, die dann eine Straßenkontrolle durchführen. Im Fachjargon heißt das „Adlerpatrouille“.
Nur im Frühsommer hat sich die Armee für ein paar Wochen mit Jeeps und Panzerwagen auf die Straßen Süd-Armaghs getraut. Sie mußte die Transporte von Baumaterialien sichern, die aus Belfast unterwegs waren: Das gemeinsame Fort von Armee und Polizei, das auf den ehemaligen Fußballplatz Crossmaglens gebaut wurde und in den Marktplatz der Stadt hineinragt, mußte verstärkt und vergrößert werden, nachdem es von der IRA in den letzten Jahren mehr als ein Dutzend Mal angegriffen worden ist. „Die Armee behauptet, sie sei nur deshalb in der Stadt, weil sie die Polizei beschützen muß“, sagt ein etwa sechzigjähriger Mann vor dem Glen Café, einem Schnellrestaurant gegenüber vom Fort. „In Wirklichkeit sind sie hier, weil sie den protestantischen Politikern demonstrieren wollen, daß es im gesamten Vereinigten Königreich keinen Flecken gibt, der sich ihrer Kontrolle entzieht. Dabei fing der Konflikt in dieser Gegend erst mit der Ankunft der britischen Armee an. Vorher gab es keinen Ärger.“ Sein Sohn, der einen Bauernhof am Ortsrand bewirtschaftet, pflichtet seinem Vater bei: „Zwischen Protestanten und Katholiken gibt es weder in Crossmaglen noch in der Umgebung irgendwelchen Streit, auch früher nicht. Die Protestanten haben ihre Kirche und ihre Kneipe, sie lassen uns zufrieden und wir sie.“
Im Gegensatz zur katholischen Falls Road in Belfast, wo die IRA- Waffenruhe mit Straßenfesten gefeiert wurde, ist die Nachricht in Crossmaglen eher auf Skepsis gestoßen. „Ich bin vor Freude völlig aus dem Häuschen“, meint die Bedienung im Glen Café sarkastisch, „ansonsten kein weiterer Kommentar.“ Im Fernseher in der Ecke des Restaurants läuft eine Diskussionssendung mit unionistischen Politikern. Ein junger Mann, der in demselben Monat geboren ist, als die britische Armee vor 24 Jahren in Crossmaglen stationiert wurde, hört mit halbem Ohr zu und sagt: „Ob Katholiken oder Protestanten – niemand will, daß Menschen erschossen werden. Deshalb ist ein Waffenstillstand zu begrüßen, aber innerhalb der nächsten Monate wollen die Leute hier konkrete Veränderungen sehen. Es muß eine allgemeine Demilitarisierung stattfinden.“
Für die Bevölkerung in Süd-Armagh, sagt er, bedeuten die „Troubles“, wie der Konflikt hier beschönigend genannt wird, vor allem eine tägliche Schikane durch die Armee- und Polizeikontrollen beim Einkaufen, beim Kneipenbesuch, durch den ständigen Hubschrauberlärm und die Suchscheinwerfer in der Nacht: „Die britische Regierung muß jetzt Gegenleistungen liefern“, fügt er hinzu. „Die IRA hat einen Riesenschritt gemacht, das muß honoriert werden.“ Eine Frau, die beladen mit drei Einkaufstüten aus dem Supermarkt nebenan das Restaurant betritt, mischt sich in das Gespräch ein: „Glaubst du im Ernst, daß die Armee jetzt verschwindet? Ich glaube nicht, daß der Waffenstillstand lange hält. Dafür geht es um viel zu viel Geld, das mit dem Krieg zu verdienen ist – auf allen Seiten.“
In McConville's Pub auf der anderen Seite des Marktplatzes ist man dagegen optimistischer. Die Kneipe liegt nur etwa zwanzig Meter neben dem Fort. Sie ist das älteste Familienunternehmen am Ort: „Im Familienbesitz in sechster Generation“, sagt der Besitzer Michael McConville stolz. „Wir sind seit 1830 in diesem Gebäude.“ Um in den Barraum zu gelangen, muß man einen langen Korridor hinuntergehen, von dem links die Toiletten abgehen. Hinter einer unscheinbaren Tür am Ende des Ganges verbirgt sich ein überraschend großer Kneipenraum. Neben der Theke in der Ecke liegt ein weiterer Raum, wo vier Jugendliche Lochbillard spielen.
An der Bar sitzen fünf alte Männer. Gene, ein Grauhaariger mit rotem Gesicht, dessen Großvater eine Fabrik für Toilettenpapier gegründet hat, die jedoch längst wieder dichtgemacht hat; Mick, ein ehemaliger Spieler der Grafschaftsauswahl im Gälischen Fußball; John, ein pensionierter Lehrer der örtlichen Oberschule; Sean, der Hausmeister der Schule; und Robbie, ein Bauer. „Ich gebe eine Lokalrunde“, sagt Mick listig und deutet auf ein handgeschriebenes Schild neben der Kasse: „Alle Getränke heute nur zehn Pence“, steht da geschrieben. Das sind umgerechnet 25 Pfennig, in Crossmaglen wird irisches Geld zum selben Kurs wie Sterling akzeptiert.
„Ich habe zur Feier des Tages die Preise gesenkt“, sagt Michael Conville, gießt sich einen doppelten Wodka ein und stößt mit allen an der Theke an: „Möge der Frieden ewig währen.“
Robbie, der Farmer, sagt gehässig: „Er kann es sich leisten, die Getränke billig abzugeben. Er ist nämlich auch der einzige Bestatter am Ort und hatte immer gut zu tun. Im Geiste nimmt er sofort bei jedem Maß, der die Kneipe betritt.“ John, der Lehrer, sinniert unterdessen: „Es ist schon merkwürdig. Leute unter dreißig wissen gar nicht mehr, daß früher auch Polizisten die Kneipen in Crossmaglen besucht haben. Hier an der Theke saßen sie, und in der städtischen Siedlung am Ende des Ortes haben sie gewohnt.“ In den Kneipen und Läden werden die Polizisten und Soldaten schon lange nicht mehr bedient. „Der letzte Polizist ist 1971 weggezogen, nachdem sein Auto direkt vor dem Polizeirevier abgefackelt worden ist. Die jungen Leute können sich gar nicht vorstellen, mit einem Polizisten oder Soldaten am Tresen zu sitzen.“ Noch beurteilen die fünf Männer die Situation jedoch skeptisch. „Den letzten Waffenstillstand haben die britischen Soldaten sabotiert,“ sagt Sean. „Sie haben Jugendliche vermöbelt, sind in die Kneipen eingefallen und haben den Leuten die Barhocker unterm Hintern weggetreten. Vielleicht läuft das diesmal anders.“
Auf der Straße sind kaum noch Menschen zu sehen, das Leben spielt sich an diesem sonnigen Abend in den Kneipen ab. Bei Paddy Short's herrscht reger Betrieb. Short ist ein Veteran der Bürgerrechtsbewegung, der mit seiner Meinung nicht hinter dem Berg hält: „Wir brauchen Frieden und Gerechtigkeit“, sagt er. „Wir dürfen nicht zulassen, daß es wieder so wird wie früher. Die irische Bevölkerung in dieser Gegend muß so behandelt werden wie nie zuvor: als Gleichberechtigte.“
Die Soldaten haben inzwischen ihre Runde um den Marktplatz, auf dem zwei Jungs in grauen Schuluniformen Fußball spielen, beendet. Während sie sich bisher eher bedächtig – zwei von ihnen immer rückwärts gewandt – bewegt haben, eilen sie jetzt im Laufschritt auf das Fort zu und verschwinden hinter einem Wellblechtor. Plötzlich schwebt ein Hubschrauber im Tiefflug über den Platz und bleibt über dem Fort in der Luft stehen. Zwei Soldaten werfen in Windeseile vier schwarze Säcke aus dem Helikopter, der danach abdreht und in Richtung Bessbrook davonfliegt. „Das sind die teuersten Cornflakes der Welt“, bemerkt einer der beiden Jungs lapidar.
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