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■ Armut? Konsumterror? Horrorvideos? - Jugendrichter aus aller Welt berieten in Bremen über gewalttätige JugendlicheRambo-Kids und der leise Ruf nach Milde

Die Jugend wird immer gewalttätiger, tönte es schon vor Jahren aus konservativen Kreisen. Heute fürchtet sich sogar ein Intellektueller namens Hans Magnus Enzensberger vorm „molekularen Bürgerkrieg“. Gibt es sie nun, die wachsende Gewaltbereitschaft der Jugend, und, wenn ja, was ist dagegen zu tun? „Es läßt sich nicht leugnen, daß sich während der letzten Jahre in Deutschland eine Zunahme der Gewalt bei unter 25jährigen ergeben hat“, bilanziert Christian Pfeiffer, Leiter des kriminologischen Forschungsinstitutes in Hannover. „Die Jugendkriminalität hat sich qualitativ nicht wesentlich verändert“, meinte hingegen Frieder Dünkel, Kriminologe aus Greifswald, auf dem 14. Weltjugendgerichtskongreß, der letzte Woche in Bremen stattfand. Dort beschäftigten sich knapp 400 ExpertInnen aus 62 Ländern mit dem Thema „Junge Rechtsbrecher und ihre Familien – Die Frage der Menschenrechte“.

So sehr sich die Antworten der Kriminologen widersprechen mögen, fest steht: Die vielbejammerte Verrohung der Jugendlichen ist weitgehend ein Wahrnehmungsproblem der Erwachsenen. Schon der allgemein für 1993 behauptete drastische Anstieg der registrierten Kriminalität ist Ergebnis eines politisch inszenierten Mißbrauchs offizieller Kriminalitätsdaten und folglich „hausgemacht“. Zu diesem Ergebnis kam Pfeiffer in einer neueren Untersuchung.

„Erstens ist die Jugendkriminalität ein vorübergehendes Phänomen, das sich von selbst verliert“, stellt Frieder Dünkel dem Heraufbeschwören der Monsterkids entgegen, „und zweitens handelt es sich in aller Regel um Bagatelldelikte.“ Andererseits gebe es das „beängstigende Phänomen gerade im Bereich der rechtsextremen Gewalt.“ Das allerdings sei eine besondere Erscheinungsform, aber ungeeignet, die Jugendkriminalität als solche zu umschreiben.

Die Täterforschung stellt dazu fest, daß rechtsextremistisch motivierte Täter aus allen Schichten der Gesellschaft stammen und durchaus nicht vom sogenannten Rand. Von dort aber kommen die, die regelmäßig in Knäste einfahren, weil sie sich wiederholt am Eigentum anderer vergehen und damit ein Delikt begehen, das nicht zuletzt wegen der ständig steigenden Zahl von Drogensüchtigen den Großteil der Jugendkriminalität ausmacht. Christian Pfeiffer sieht eine wachsende soziale Desintegration. „Wir hatten noch niemals in der Geschichte der Nachkriegszeit einen so hohen Prozentsatz junger Menschen in Deutschland, die von Sozialhilfe leben.“ So sei die Zahl der Obdachlosen unter den registrierten Tatverdächtigen innerhalb von vier Jahren von 38.000 auf 100.000 angewachsen. „Nicht der Wertewandel sollte das große Thema der Kriminalpolitiker sein, sondern die neue Armut in unserem Land.“

Kurt Neudek, leitender UNO- Beamter in der Wiener Abteilung für Verbrechensverhütung und Strafrechtspflege, ortet indes die Ursachen „steigender Jugenddelinquenz in Deutschland“ woanders: „Das liegt wahrscheinlich an der Wohlstandsgesellschaft; die Jugendlichen haben alles und wollen doch immer mehr.“ Wirkliche Armut sieht er in den Ländern der Dritten Welt. In Kolumbien etwa, wo der Drogenhandel der wichtigste Wirtschaftszweig ist. „Viele Jugendliche sind angewiesen auf eine Arbeit bei der Drogenmafia“, die traditionell mit Gewalt arbeite, um sich unliebsamer Staatsanwälte und Politiker zu entledigen. Kinder werden für 200 Mark als Mörder gedungen, „und wenn sie mal in der Organisation drin sind, müssen sie weitermachen, damit sie nicht selbst umgebracht werden“.

Aber Armut als Ursache für steigende Gewaltbereitschaft in Deutschland? „Es geht ja immer um relative Armut“, erklärt Dünkel und blickt gen Osten. Dort habe früher der Trabi durchaus gereicht, heute aber erwecke der BMW oder Mercedes daneben den Neid. Es sei allerdings verkürzt, die Jugendkriminalität ausschließlich mit Armut zu erklären, die Ursachen seien vielmehr äußerst vielschichtig. Dünkel mißt Fernsehen und Videos eine große Bedeutung zu, die die Akzeptanz von Gewalt massiv förderten. Hinzu träten die gar nicht so neue Unwirtlichkeit der Städte und die Perspektivlosigkeit, mit der Jugendliche angesichts einer Arbeitslosenquote von 15 Prozent und mehr konfrontiert seien. „Die Folgen werden jetzt der Justiz aufgebürdet, die einsperren soll.“ Dabei, warnt der Kriminologe, zeigen alle neueren Untersuchungen, daß härtere Strafen möglicherweise eine symbolische Beruhigung der Bevölkerung darstellen mögen, aber keinerlei abschreckende Wirkung haben. Die hohen Rückfallquoten von mehr als 70 Prozent im Jugendbereich seien vom Strafmaß stets unbeeinflußt geblieben.

Dessenungeachtet reagiert Amerika seine unbegrenzten Möglichkeiten in Form von Todes- oder lebenslanger Freiheitsstrafe an den Jugendlichen ab. Auch Großbritannien verhängt nahezu unbegrenzte Freiheitsstrafen, in den Niederlanden wird zur Zeit die Einführung von „Erziehungslagern“ diskutiert. Und mitten hinein in das von den Rostocker Pogromen ausgelöste Entsetzen plazierte 1992 der CDU-Vorsitzende Wolfgang Schäuble die Forderung, straffällig gewordene Kinder und Jugendliche wieder in geschlossene Heime einzuweisen. Die rechtsextremistische Gewalt löste eine vielfach ersehnte Renaissance von Law-and-order-Strategien gegen die Gesamtheit jugendlicher Straffälliger aus.

„Die Dimensionen sind verlorengegangen“, kommentiert Kriminologe Pfeiffer. „Es geht nicht an, daß ein Handtaschendieb zwei Jahre kriegt, genauso wie einer, der einen Ausländer halb tottrampelt. Man müßte die Strafen im Eigentumsbereich senken und andererseits einen Brandanschlag nicht als Brandstiftung, sondern als versuchten Mord verurteilen. Der dafür zur Verfügung stehende Strafrahmen reicht völlig aus.“

Zwar scheiterte die Einführung härterer Strafen bislang am Veto der ExpertInnen. Aber die schon 1992 von der Deutschen Vereinigung für Jugendgerichte und Jugendgerichtshilfen (DJJV) erstellten Vorschläge zur zweiten Reform des Jugendstrafrechts, die Strafmilderungen sowie den Ausbau informeller Sanktionen und ambulanter Hilfen enthalten, wurden vorläufig auf Eis gelegt. Die Mehrheit der KriminologInnen bedauert dies, meint Dünkel, „aber ein solcher Gesetzentwurf wäre in der derzeitigen Stimmung eher kontraproduktiv“. Dora Hartmann

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