: Du sollst nicht morden
■ Über Claude Lanzmanns neuen Film
Gerade mal einen kleinen Platz in einer Nebenreihe hatten die Filmfestspiele von Venedig Claude Lanzmann reserviert. „Tsahal“, ein Film über die israelische Armee und die Gesellschaft, die sie mit Manpower und Material bestückt, ist eine französisch-deutsche Koproduktion. „Im Handumdrehen“, sagt Lanzmann, habe er das Geld für seinen Dokumentarfilm zusammenbekommen; er hat eigentlich nur seinen Namen am Telefon sagen müssen, sofort standen die Fernsehsender bereit. Max Ophüls, ein alter Konkurrent auf dem Dokumentarfilmsektor, hat viel größere Schwierigkeiten, auch nur ein halb so großes Projekt finanziert zu bekommen.
„Tsahal“ ist der dritte und letzte Teil einer Trilogie, mit der Lanzmann die Existenzbedingungen des jüdischen Volkes heute beschrieben hat. Kaum jemand kennt seinen ersten Film, „Pourquoi Israel“, den er noch als Herausgeber der Zeitschrift Les Temps Modernes drehte: 1952 war er nach Israel gereist, fasziniert von den inneren Zerreißproben des Landes. Sartrianer, der er ist, geht es ihm, anders als Ophüls, nicht um Investigation, sondern um die Beschreibung von Strukturen. „Hier ist kein Warum“ war der Kernsatz seines Hauptwerkes, dem neunstündigen Film „Shoah“, der 1985 in die Kinos kam. Er ist der einzige geblieben, der die Lebensbedingung des Zurückschauens zu den Toten in eine filmische Bewegung umzusetzen in der Lage war.
„Tsahal“ nun ist wieder zusammengesetzt aus Gesprächsausschnitten mit Generälen, Soldaten, jungen Fallschirmspringern, Schriftstellern und einem Araber, die auf den ersten Blick wie persönliche Statements wirken, auf den zweiten Blick aber die Philosophien abgeben, für die Lanzmann sich einzig interessiert. Konsequenterweise beginnt der fünfstündige Film in einem Aufzeichnungsraum, in dem ein Offizier die Funksprüche mit einem seiner Kommandeure aus dem Jom-Kippur-Krieg gesammelt hat. Er redet von diesem Krieg, sein Vater hat alle israelischen Kriege bisher mitgemacht, den Unabhängigkeitskrieg, den 6-Tage-Krieg, die Libanoninvasion, alles. Wieder und wieder kehrt der Film zu dem Moment 1973 zurück, als „eine ganze Generation fast ausgelöscht wurde“, wie es ein anderer Offizier beschreibt. Diese Erinnerung, zusammen mit der an den Holocaust, war es dann, die die im Film ausführlich dargestellte Angriffsdoktrin hervorbrachte.
Zu den Erzählungen und Berichten vergangener Kriege sieht man Bilder heutiger Manöver, Fahrten über das weite, zum Teil ganz unbesiedelte Land. Dadurch entsteht, wie schon in „Shoah“ diese seltsame Durchdringung von Vergangenheit und Gegenwart, alles hängt miteinander zusammen. Ein paar Themen: die biblischen Urzeiten und die Mythologie der Siedler, die kurze Dauer der jüdischen Souveränität unter den Maccabäern, der die Römer ein Ende machten, und die Besiedlung durch frühe Zionisten, deren Verhältnis zu den Überlebenden, die dann Jahrzehnte später ins Land kamen, und das Verhältnis der Väter zu den Söhnen.
Streckenweise wirkt der Film verblüffend martialisch – erst im zweiten Teil kommen kritische Zivilisten wie Amos Oz oder ein Menschenrechtsanwalt zu Wort – aber auch das ist nur der erste Blick. Der zweite offenbart, daß ein fast einstündiges Gespräch über die Konstruktion der israelischen Panzer und deren Vergleich mit dem deutschen „Leopard“ und dem amerikanischen „Abraham“, eben auch das Verhältnis zwischen Militär und Gesellschaft beleuchtet. Weil zu viele Soldaten mit ihren Panzern explodiert oder bei Verwundung in sie eingeschlossen waren wie in einem Feuerofen, gibt es eine Konstruktion, die 75 Prozent des Materials auf den Schutz des Fahrers verwendet. Wieder und wieder zeigt Lanzmann, wie der Verrohung, die nach fünfundvierzig Jahren Dauerkrieg eigentlich das zu Erwartende wäre, innere Grenzen vorgeschoben sind, die schließlich auch den Friedensvertrag notwendig machten.
Juden, so sagt der Film in jeder Minute, sind keine „Natural Born Killers“. „Ich weiß, daß gerade die deutsche Linke Probleme hat, wenn ein Jude sagt, ich liebe meinen Panzer. Aber das Gebot heißt nicht ,Du sollst nicht töten‘, sondern ,Du sollst nicht morden‘“.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen