: Irrenoffensive steckt in der Krise
Eine Mitgliederversammlung soll heute über die Auflösung der Anti-Psychiatriegruppe entscheiden / Gesundheitsverwaltung prüft Kassenbücher wegen manipulierter Rechnungen ■ Von Dorothee Winden
Eine Mitgliederversammlung der Irrenoffensive wird heute darüber entscheiden, ob sich der Anti- Psychiatrie-Verein aufgelöst und unter einem neuem Namen wieder gründet. Die Senatsverwaltung für Gesundheit hat dem Verein Ende Juni die für den Rest des Jahres bewilligten Mittel gesperrt, nachdem sie Hinweise über eine nicht sachgemäße Verwendung der Gelder erhalten hatte. Daraufhin waren die drei MitarbeiterInnen des Vereins vom neuen Vorstand fristlos entlassen worden.
Einem früheren Vorstandsmitglied wird vorgeworfen, unzulässigerweise 3.000 Mark aus dem Haushaltjahr 1993 mittels einer fingierten Rechnung eines Reisebüros für eine Gruppenreise in diesem Jahr „umgewidmet“ zu haben. Die Transaktion konnte noch rückgängig gemacht werden, nachdem sie aufgedeckt worden war. Derzeit überprüft die Senatsverwaltung für Gesundheit, ob es weitere Manipulationen bei Belegen und Rechnungen gibt.
Gegen die Pläne, die Irrenoffensive aufzulösen, protestiert eine Reihe von Mitgliedern. „Bis ein neuer Verein eingetragen und als gemeinnützig anerkannt ist, vergehen Monate, in denen die Arbeit brachliegt“, befürchtet der frühere Vorstand Alexander Schulte. Heftige Kritik gibt es auch am Termin für die Mitgliederversammlung. Sie wurde ausgerechnet auf das Wochenende gelegt, an dem in Naumburg ein bundesweites Treffen Psychiatrie-Erfahrener stattfindet, zu dem einige Mitglieder gefahren sind oder fahren wollten.
Die Irrenoffensive, die sich 1982 als Selbsthilfegruppe für Psychiatrie-Betroffene gegründet hat, wurde seit 1983 vom Senat gefördert. Zuletzt erhielt die Gruppe jährlich 150.000 Mark. Der Verein hat Psychiatrie-Betroffenen u.a. Beratung in rechtlichen Fragen angeboten und darüber informiert, wie sie von Psychopharmaka wegkommen können. Von den 42 Mitgliedern des Vereins kamen zuletzt noch etwa 15 zu den wöchentlichen Plenen.
Bis zum gestrigen Nachmittag war sich auch der neue Vorstand noch nicht darüber im klaren, ob er wirklich für eine Auflösung des Vereins ist, da es ihm nicht gelungen war, kurzfristig einen Rechtsanwalt zu Haftungsfragen zu konsultieren. Mit der Auflösung soll in erster Linie verhindert werden, daß der Senat den Verein finanziell haftbar machen kann. Wie die Vorstände Manfred Albrecht und Nikolaus Motz erklärten, habe der Senat die Auflösung außerdem zur Bedingung dafür gemacht, daß der neue Verein die der Irrenoffensive bis Ende 1994 bewilligten Gelder erhalte.
Der Sprecher des Gesundheitssenators, Ulf Hermann, widerspricht der Darstellung des Vorstands allerdings. „Die Auflösung und Neugründung ist von uns mitangedacht worden, ist aber nicht als Bedingung gestellt worden.“ Die Auflösung sei aus inhaltlichen Gründen wünschenswert, weil es innerhalb des Vereins keine Einigkeit über die weitere Arbeit gebe. Ob die Irrenoffensive weiterhin Gelder vom Senat erhalte, hänge davon ab, ob bisherige Zuwendungen ordnungsgemäß verwendet worden seien. Das Ergebnis der Überprüfung werde am Montag vorliegen.
Neben inhaltlichen gibt es auch persönliche Differenzen zwischen den Mitgliedern. „Machtkämpfe statt Diskussionen“ habe es in den letzten Monaten gegeben, so eine entlassene Mitarbeiterin. Unter anderem habe sie mit einem der neuen Vorstände „schreckliche Auseinandersetzungen“ wegen des von ihr initiierten Frauentages gehabt. Uneinigkeit besteht auch über den Stellenwert der Vernetzung mit anderen Anti-Psychiatriegruppen. Während der frühere Vorstand und eine der Mitarbeiterinnen dies für sehr wichtig halten, will der neue Vorstand den Schwerpunkt auf die Beratung Betroffener legen. „Der neue Vorstand will den neuen Verein fest an den sozial-psychiatrischen Dienst anbinden. „Das mache ich nicht mit“, protestiert Schulte. Damit werde die Eigenständigkeit der Irrenoffensive aufgegeben.
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