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Die Fäuste des Tigers

Heute abend boxt Dariusz Michalczewski gegen den US-Amerikaner Barber um den Titel eines Box-Weltmeisters im Halbschwergewicht  ■ Aus Hamburg Jantje Hannover

Zwischen angezogenen Schultern versteckt sich ein kantiger Schädel. In Kopfhöhe geballte Fäuste sichern die Vorderseite. Nur gelegentlich schnellt eine Faust aus dem Stiernackenpaket, als entlade eine innere Feder ihre Energie in einem gezielten Schlag. Kraft wird zu Geschwindigkeit, nasses T-Shirt klatscht gegen nassen Brustkorb, ein Ton wie ein Peitschenschlag, und einen Sekundenbruchteil später ist das Gesicht wieder hinter den Fäusten verschwunden. Dariusz Michalczewski trainiert am Spiegel Schattenboxen. Der 26jährige gebürtige Pole ist inzwischen deutscher Staatsbürger und wird „Tiger“ genannt. „Der muß Weltmeister werden“, sagt sein Manager Peter Hanraths. „Schließlich hat er die letzten 21 Kämpfe gewonnen, mit k.o.“

Zusammen mit dem Unternehmerkollegen Klaus-Peter Kohl betreibt Hanraths seit November letzten Jahres eine neue Halle im Hamburger Stadtteil Wandsbek: eine einfache Zuschauertribüne auf Holzbohlen, verschraubte rote Plastiksitze für knapp 200 Zuschauerinnen und Zuschauer, davor ein erhöht gelegener Ring in blau-weiß-rot, links daneben hängen Sandsäcke, der Punchingball und die Kletterwand. Der Balkon des Ringrichters an der linken Wand wird von zwei goldenen Kränzen eingerahmt, die Kranzbänder leuchten in Schwarz-Rot- Gold. Daneben das Firmenemblem der Universum-Boxpromotion: eine Erdkugel, die plattgedrückt wie ein Rugbyball zwischen zwei blutroten Boxhandschuhen klemmt, als habe ihr ein gigantischer Boxer ordentlich eins auf die Rübe gegeben.

Der Tiger läßt jetzt das Springseil surren. Mit anmutigem Dribbelschritt hebt er die wadenhohen Schnürstiefel aus Stoff so dezent vom Boden ab, daß der Zuschauer den Moment verpaßt, da das ohnehin unsichtbare Seil die Füße passiert. Eine Matte dämpft den Schwung des Springers. „You have to stop him sometimes“, lobt Profi- Coach Chuck Talhami aus Miami den Ehrgeiz seines Schülers. Der Mann, der einst Muhammad Ali sekundierte, bereitete Dariusz Michalczewski auf die Weltmeisterschaft vor. Heute abend kämpft der Tiger gegen den WBO- Champion Leeonzer Barber um den Titel im Halbschwergewicht, jener Klasse, in der auch Henry Maske Weltmeister ist, allerdings bei der IBF, einem von vier konkurrierenden Verbänden. Barber sei jedoch der stärkste der vier Titelträger, sagt Klaus-Peter Kohl, ein kleiner Seitenhieb auf Henry Maske.

Inzwischen haben die Profiboxkollegen vor dem Spiegel Stellung bezogen. Vier leichtgewichtige Jungs aus den verschiedensten Ländern der ehemaligen Sowjetunion lassen jetzt ihrerseits bloße Fäuste aus geduckter Boxerstellung gegen imaginäre Gegner prallen. Mitten aus dem Hamburger Rotlichtmilieu – der frühere Trainingskeller lag an der Reeperbahn und nannte sich „Ritze“ – hat sich das Profisportunternehmen in die Vorstadtidylle zwischen die Wandsbeker Einfamilienhäuser verdrückt. Die neue Halle liegt in einem Gewerbehof – weißgetünchte Flachbauten mit Ziegeldach und blaulackierten Fensterrahmen aus Metall. Hier kann man schon vor der Haustür vom Fußboden essen. Und wo man sich früher durch zwei gespreizte Damenschenkel den Weg in die Sporthalle bahnen mußte, zieren heute zwei überdimensionale Boxhandschuhe die blaugestrichene Eingangstür.

Heute wird die männlichste aller Sportarten in einer lichtdurchfluteten Halle von 400 Quadratmetern Grundfläche betrieben. Mit der Halbwelt sind auch die Hamburger Jungs von der Bildfläche verschwunden. „Wer mit dem Milieu zu tun hat, fliegt“, sagt Peter Hanraths, denn: „Das ist nicht gut fürs Fernsehen“ – sprich: Geschäft. Die Fernsehhonorare sind neben Sponsoren und Eintrittsgeldern die wichtigste Einnahmequelle der Profis. 60.000 Mark gab es für Dariusz' letzten Kampf, bei der Weltmeisterschaft geht es heute um sechsstellige Summen. Michalczewski erhält 100.000 Mark, Barber das sechsfache.

Tatsächlich ist Hanraths allen moralischen Appellen zum Trotz der einzige, der hier an das „Milieu“ erinnert. Das Goldkettchen um den Hals fehlt ebensowenig wie die Rolex am Handgelenk. In der Rechten hält er das Funktelefon, das zwar nie klingelt, dafür aber um so aufgeregter daherblinkt. Mit seiner braungetönten Fönfrisur samt passendem Schnurrbart hätte der 49jährige, der selber mal als Boxer groß raus wollte und dann „verletzungsbedingt“ 20 Jahre als Autohändler gearbeitet hat, durchaus noch Chancen bei der Zahnpasta-Werbung. Bloß die Stimme ist eine Spur zu sanft für einen Halbweltler. René Weller, 40, ist da schon ein anderes Kaliber. Der ehemalige Europameister gesellt sich zu Manager und Trainer auf die roten Plastiksitze. Man bespricht die nächsten Kämpfe. „Der verkauft sich gut“, sagt Hanraths später voll des Lobes über den Mann, der sich einst mit knappen Höschen und einer losen Zunge Weltruhm und den Spitznamen „Schöner René“ eingehandelt hatte.

„Dig, dig, dig“, diesmal hilft Dariusz Michalczewski mit der Stimme nach, als er den Medizinball wieder und wieder gegen die Hallenwand drischt. Ein Wurf pro Sekunde, die Entfernung beträgt anderthalb Meter. Zusammengekniffen blinzeln die Augen unter den hervorspringenden Brauen, vor jedem Aufprall zucken Mund- und Wangenpartie wütend nach oben. Unter der kurzen Flugbahn der dicken, braunen Kugel haben sich kleine Seen auf dem PVC- Fußboden gebildet. Das Universum-Emblem auf dem T-Shirt versinkt in einem Dreieck aus Schweiß.

Fritz Sdunek, der ehemalige Auswahltrainer der DDR, hier verantwortlich für die Kondition des angehenden Weltmeisters, steht mit der Stoppuhr neben seinem Schützling. Fast zärtlich legt er ihm die Hand auf die Brust, nachdem die Hallenglocke das Ende der dreiminütigen Trainingsphase eingeläutet hat. „198 Schläge pro Minute“, sagt er stolz, als wär's ein Stück von ihm, „in einer Minute ist er wieder auf 130 runter.“ Klarer Fall, Dariusz Michalczewski ist das beste Pferd im Stall.

Die vier jungen Männer aus der Sowjetunion sprechen kein Deutsch. Mit den kurzen Haaren und den großen, stummen Augen wirken sie wie heimatlose Kinder, denen man zu früh die Mutterbrust entzogen hat. „Die stehen bei uns unter Vertrag“, sagt Hanraths stolz. Chatrian Gagik, 24, ist bereits „internationaler deutscher Meister“, wie man das bei Ausländern nennt.

Die Leiharbeiter leben quasi in der Halle. Hinter der von Medizinbällen schwer malträtierten Hallenwand liegen zwei Schlafräume mit jeweils zwei Etagenbetten, alles frisch von Ikea, dazu ein Wohnzimmer mit Couchgarnitur, Videorecorder und Eßecke, die Frau von Trainer Sdunek macht morgens das Frühstück. Und wenn sie abends in den umliegenden Kneipen essen gehen, kostet das ein russisches Monatsgehalt pro Kopf. Inzwischen hält der „Tiger“ den Medizinball in den Händen, schleudert ihn über den Kopf hinter sich auf den Boden, dreht sich um die eigene Achse und fängt den zurückprallenden Koloß wieder auf. Die jungen Russen sitzen mit offenen Schnürstiefeln auf der Matte und schauen zu. Sie haben heute Auflockerungstraining, nach siegreichen Kämpfen am vergangenen Wochenende. Bis auf Chatrian Gagik, der jetzt mit René Weller in den Kampfring steigt. „Von denen säuft keiner, trinkt keiner.

Das sind alles nette, sympathische Jungs“, sagt Hanraths wie ein wohlmeinender Familienvater über seine tropfnasse Mannschaft, die auch bei 35 Grad im Schatten nicht schlappmacht. Nett sind sie, keine Frage. Wo soviel aggressive Energie gegen Hallenwände geschleudert wird, bleibt keine Wut für kleinliche Alltagsquerelen übrig. Als die Sekundanten nach ertöntem Klingelzeichen den Sparrings-Partnern die Gesichter mit Vaseline eincremen – damit die gegnerischen Schläge besser abgleiten – geschieht das mit liebevoller Zärtlichkeit. Nur im Sport dürfen Männer so was, ohne in den Ruch zu geraten, sie seien schwul.

Inzwischen ist das dritte schweißgetränkte Hemd in der Ecke gelandet. Dariusz läßt seinen wohlgeformten Oberkörper sehen. Aufmerksam verfolgt er den Kampf von der Zuschauertribüne. „Nicht abwarten, immer abwarten ist Scheiße“, ruft er seinem russischen Kollegen zu, der ihn leider nicht versteht. Vor sechs Jahren ist Dariusz bei der Europameisterschaft in Deutschland einfach hiergeblieben. „Hier verdient man gutes Geld, und ich will nicht mehr zurück.“ Frau und Kinder sind zur Zeit bei der Familie in Polen – auf Urlaub. Bei angehenden Weltmeistern geht das mit der Einbürgerung manchmal etwas schneller.

Und wenn alles nach Plan läuft, wird mit Dariusz Michalczewski Deutschland Weltmeister und nicht Polen. Weil Deutschland so viel Geld hat und Polen so wenig.

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