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Proteste selbstbewußt-souverän erstickt

■ Zum Alliierten-Abschied wird Berlin zur Hauptstadt eines Polizeistaats

Berlin (taz) – In der Stunde Null deutscher Nachkriegssouveränität gleicht das künftige Regierungsviertel der chilenischen Hauptstadt Santiago nach dem Putsch von 1973. 5.000 Polizisten, verstärkt durch ein Unterstützungskommando aus Bayern, Bundesgrenzschutz und Staatsschützer in Zivil, haben es am Donnerstag abend zum Großen Zapfenstreich geschafft, die Berliner Mitte nicht nur ruhig, sondern – mit Ausnahme geladener Gäste – menschenleer zu halten.

Das Gespenstische dieses größten Polizei-Aufmarsches in Berlin seit der Vereinigung war, daß es nicht galt, eine Demonstration friedlich zu halten, sondern jede Protestregung im Vorfeld zu ersticken. Um das Abschiedsfinale für die West-Alliierten am Brandenburger Tor, den Großen Zapfenstreich der Bundeswehr und damit die Präsentation eines selbstbewußten souveränen Deutschland durchziehen zu können, nahm die Berliner Stadtregierung das häßliche Bild eines Polizeistaates billigend in Kauf. Innerhalb des Bannkreises 1.500 Meter rund um das Brandenburger Tor stempelte die Polizei unterschiedslos jeden zum Sicherheitsrisiko. Wer in diesen Kreis wollte, mußte Taschen- und, sofern er jung war, auch Körperkontrollen über sich ergehen lassen. Endgültig Schluß war 500 Meter vor dem Brandenburger Tor. Nur einer „wahnsinnigen Maus“, so die Frankfurter Rundschau, hätte es gelingen können, durch die Polizeikordons hindurchzuschlüpfen.

Als einige Dutzend gern wahnsinnig gewesene Mäuse gegen 20.30 Uhr ein wenig piepsten und der Wind den Protest nach Westen zum Tor wehte, griff die Staatsmacht ein. 2.000 Polizisten rückten langsam schlendernd vor und trieben 300 Menschen, darunter ausländische Touristen, Richtung Alexanderplatz ab. Sie wirkten sogar freundlich dabei, hier und da bahnten sich Gespräche zwischen Uniformierten und Zivilisten an. So begrüßte ein Polizist sichtlich erfreut mit Handschlag eine etwa 40jährige Frau. Der war das hochpeinlich, und den Umstehenden erzählte sie rechtfertigend, daß sie diesen Polizisten aus Bayern gut kenne. Zwei Jahre lang habe sie jeden Sonntag in Wackersdorf demonstriert, und zwei Jahre lang habe genau dieser Polizist sie dort bewacht.

Wie bei keinem polizeilichen Machtspiel in der Vergangenheit aber konnte sich die Staatsmacht vorgestern menschlich zeigen. Denn daß sie das Spiel gewinnen würde, stand von Anfang an fest. Jeder, der der ersten Aufforderung, einen Platz innerhalb des Bannkreises zu räumen, nicht folgte, wurde sofort festgenommen und in einer Polizeiwanne abgefahren. Insgesamt traf das 66 Personen. Anita Kugler

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