piwik no script img

Nicht kleckern, sondern protzen

■ Deutsche Einheit in Bremen: Volksfest mit elitären Gästen

Ganz Deutschland schaut auf diese Stadt. Am 3. Oktober – dem Tag der deutschen Einheit – wird die Republik in der ersten Reihe sitzen und via Fernseher geschlagene vier Stunden und 15 Minuten dem Festakt und einem bunten Programm über Bremen beiwohnen können. Knapp zwei Wochen vor der Bundestagswahl wird dann Bundespräsident Roman Herzog eine Rede halten und Noch-Bundeskanzler Helmut Kohl däumchendrehend über vergangene Erfolge der Wiedervereinigung sinnieren können. Bundestagspräsidentin Rita Süßmuth reist auch an, hat aber eher eine dekorative Nebenrolle. Da sie im vergangenen Jahr in Saarbrücken sprechen durfte, muß sie dieses Jahr still schweigen. Ein Jahr die Bundestagspräsidentin, ein Jahr der Bundespräsident. Gerecht verteilt.

Nachdenklich, lustig und auch ruhig ein wenig kritisch soll es an dem deutschesten Tag der Deutschen in Bremen zugehen. Das wünscht sich jedenfalls Bürgermeister Klaus Wedemeier, dem Stadt und Land Bremen die Ehre verdanken. Der Jubeltag geht quasi als Wanderpokal von Land zu Land, und jenes, welches gerade den Bundesratspräsidenten stellt, darf und muß die Feierlichkeiten ausrichten. „Das ist eine Chance, die wir nur alle 16 Jahre haben“, sagt Wedemeier. Und deswegen wird ordentlich aufgefahren.

Der polnische Schriftsteller Andrzej Szczypiorski erfüllt gleich drei wichtige Funktionen, wenn auch er am zentralen Festakt teilnimmt und eine Rede hält. Er ist international renommierter Literat, Widerstandskämpfer gegen die deutsche Besatzung in Polen und hat am Warschauer Aufstand, der am 2. Oktober 1944 von den Deutschen niedergemetzelt wurde, teilgenommen. Szczypiorski wurde daraufhin ins KZ Sachsenhausen verschleppt. Die FestveranstalterInnen freuen sich, ihn als Sprecher für den 3. Oktober gewonnen zu haben. Zählte er doch „zu den allerersten Stimmen, die sich gegen die verständlichen Ängste der polnischen Bevölkerung für die deutsche Einheit ausgesprochen haben.“ Außerdem gilt er als „Referenz von Solidarnosc“.

Lustig und lall geht–s dann auf dem Marktplatz ab. Die bremische Genußmittelindustrie darf dort die „Welt der Genüsse“ präsentieren und an den erwarteten 150.000 Gästen ne Mark verdienen. Fischschnitten, heimisches Bier und Kaffee sollen die Leute bei Laune halten, wenn sie zwischen Kunst und Kulturterminen hin- und hereilen. Und die sind mannigfaltig. Sämtliche sowieso schon in Bremen laufenden Ausstellungen wurden unter das Projekt „Deutsche Einheit“ subsumiert – von Toulouse-Lautrec bis Vladimir Ashkenazy. Der spielt mit freundlicher Unterstützung von Atlas Electronic, die sich auf der Hi-Tech-Messe im ICB zukunftsweisend geben werden. Schließlich sollen alle in Bremen was von der Feier haben, zumal wenn die Stadt endlich mal in die Medien kommt. Schnittchen und Lichtspiele fürs Volk, viel Werbefläche für Unternehmen und vielleicht mancher Auftrag für die Wirtschaft. Werben für die Feier will die Stadt übrigens nur zwischen Elbe und Ems. Hannover und Hamburg kriegen keine Plakate. Sollen die doch selber feiern ... fok

Eine Koalition, die was bewegt: taz.de und ihre Leser:innen

Unsere Community ermöglicht den freien Zugang für alle. Dies unterscheidet uns von anderen Nachrichtenseiten. Wir begreifen Journalismus nicht nur als Produkt, sondern auch als öffentliches Gut. Unsere Artikel sollen möglichst vielen Menschen zugutekommen. Mit unserer Berichterstattung versuchen wir das zu tun, was wir können: guten, engagierten Journalismus. Alle Schwerpunkte, Berichte und Hintergründe stellen wir dabei frei zur Verfügung, ohne Paywall. Gerade jetzt müssen Einordnungen und Informationen allen zugänglich sein. Was uns noch unterscheidet: Unsere Leser:innen. Sie müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 50.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Es wäre ein schönes Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen