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Der umarmte Bandit

Der ungesetzte Andre Agassi gewann die US Open in Flushing Meadow mit 6:1, 7:6, 7:5 gegen Michael Stich  ■ Von Matti Lieske

Berlin (taz) – Eben noch war Andre Agassi hochkonzentriert und jagte den Ball, wie so oft in diesem Finalspiel, mit ungeheurer Präzision in jene Ecke, in der sein Gegenspieler Michael Stich gerade nicht stand, dann fiel plötzlich alle Spannung von ihm ab, er sank in die Knie und murmelte mit entrücktem Blick mutmaßlich wirres Zeug vor sich hin. Soeben hatte der 24jährige Publikumsliebling den Matchball zu seinem zweiten Sieg bei einem Grand-Slam-Turnier nach Wimbledon 1992 verwandelt.

Augenblicke später kam Michael Stich über das Netz gehüpft, sichtlich erleichtert, daß er diese unangenehmen Stunden im Louis- Armstrong-Stadion von Flushing Meadow endlich hinter sich hatte, zog seinen Gegner vom Boden hoch und umarmte ihn kumpanenhaft. Das wiederum brachte Agassi zur Besinnung und zu der Erkenntnis, daß ja noch weitaus erfreulichere Umarmungen auf ihn warteten. Flugs sprang er zu Freundin Brooke Shields, der er einen filmreifen Kuß verabreichte, ließ sich von seinem Troß inklusive Coach Brad Gilbert drücken und herzen und war dann endlich ausreichend gewappnet für die Siegerehrung.

Als 20. der Weltrangliste war der lange Zeit verletzungsgeplagte Agassi nach New York gekommen, und als erster ungesetzter Spieler seit 1966 gewann er die US Open, nachdem er Leute wie Guy Forget, Wayne Ferreira, Michael Chang, Thomas Muster, Todd Martin und zuletzt Michael Stich bezwungen hatte. Sein stets übermächtiger Angstgegner Pete Sampras war ihm dank des Peruaners Jaime Yzaga erspart geblieben. Spätestens nach dem beeindruckenden Triumph gegen den wieselflinken Chang wußte der banditenbärtige Jüngling aus Las Vegas, daß er die Form besaß, um in Flushing Meadow zu siegen. Seine Grundlinienschläge kamen druckvoll, sicher und plaziert wie in alten Zeiten, seine Aufschlagquote war beachtlich, und selbst bei seinen seltenen Netzausflügen unterliefen ihm kaum Fehler. In dieser Verfassung ist Agassi nur zu packen, wenn sein Kontrahent extrem gut aufschlägt, und dies war Stich an diesem Tag nicht vergönnt.

Schon beim Einspielen war der Deutsche so nervös, daß er kaum die Bälle traf, und im ersten Satz setzte sich diese Malaise nahtlos fort. Die kleine Schar brüllender Claqueure unter den 22.000 Zuschauern, die ihn von der Tribüne aus in etwas peinlicher Weise anfeuerte, strapazierte ihre Stimmbänder umsonst, im Handumdrehen hatte Agassi den Durchgang mit 6:1 gewonnen. Im zweiten Satz lief es etwas besser, doch Stich hatte bei jedem seiner Aufschlagspiele große Probleme, ein Break zu vermeiden, während er selbst den Aufschlag des pferdeschwänzigen US-Amerikaners nie in Gefahr bringen konnte. Stich wurde immer ungehaltener, blickte fast so verkniffen wie seine Ehegattin Jessica auf der Tribüne und moserte ständig Schiedsrichter und Linienrichter an, denen er lautstark unterstellte, daß sie ihren Landsmann bevorteilen würden.

Am Ende war der Salzburger Resident jedoch fair genug zuzugeben, daß Agassi verdient gewonnen hatte: „Andre hat das ganze Turnier über sagenhaftes Tennis gespielt und war auch heute nicht zu schlagen.“ Im zweiten und dritten Satz gab die größere Sicherheit Agassis den Ausschlag. Stich vermochte seine spärlichen Möglichkeiten, wenigstens mal einen Breakball zu ergattern, nicht zu nutzen. Zwar konnte er die nicht übermäßig wuchtigen Aufschläge des US-Amerikaners stets erhaschen, wurde dann aber gnadenlos von einer Seite zur anderen gehetzt, bis sich die entscheidende Lücke für Agassi bot. Sein eigener erster Aufschlag kam zu selten, außerdem unterliefen ihm immer wieder leichte Fehler. Ganz im Gegensatz zu Agassi. „Andre hat so gut wie keine Fehler gemacht“, lobte Stich, der den zweiten Durchgang im Tie-Break mit 5:7 verlor und dann beim Stande von 5:5 das entscheidende Break kassierte. Nervenstark gewann Agassi anschließend sein Aufschlagspiel zum 7:5. Wenig später hatte Michael Stich seine Contenance wiedergefunden und erklärte sogar, daß er Agassi recht gern möge, obwohl ihm dieser kurz vor Schluß einen Volley direkt auf den Bauch geknallt hatte. „Das habe ich nicht gewollt“, behauptete Agassi, „klare Absicht“, urteilte der 25jährige Deutsche, der mit diesen US Open hochzufrieden sein konnte: „Ich habe mein Bestes gegeben und hoffentlich einige neue Freunde in den USA gewonnen.“

Und er hat mal wieder Boris Becker einen auf die Mütze gegeben. „Einer wie Stich“, der in Wimbledon und Melbourne in der ersten Runde, in Paris in der zweiten ausgeschieden sei, habe unter den Top ten nichts zu suchen, hatte dieser vor Flushing Meadow über den ungeliebten Rivalen gehetzt und sich selbst zum Turnierfavoriten aufgeschwungen. Dann war Becker in der ersten Runde gescheitert, Stich hingegen glorreich ins Finale eingezogen. Bei soviel Seelenbalsam auf einen Schlag läßt sich die Endspielniederlage gegen einen hochüberlegenen Gegner leicht verkraften.

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