: Von Karteileichen und Warteschleifen
■ Alljährlich fehlen zunächst Zehntausende von Lehrstellen, alljährlich behebt die Statistik den Lehrstellen-Notstand
Berlin (taz) – Es ist jedes Jahr das gleiche Spiel: Im Sommer fehlten laut Statistik noch Zehntausende von Lehrstellen, besonders im Osten. Pünktlich zur Septemberbilanz wird die Zahl der nicht vermittelten Bewerber laut Statistik auf einen Bruchteil herabsinken. Mit Karteibereinigungen und der Vermittlung in nichtbetriebliche Lehrgänge werden derzeit Tausende von Bewerbern entsorgt. Ein Blick auf die Statistik der Bundesanstalt für Arbeit (BA) für die neuen Bundesländer: im August waren noch 20.030 BewerberInnen gemeldet, gegenüber nur 7.100 unbesetzten Lehrstellen. Auch im August vergangenen Jahres fanden sich in den Bilanzen der BA im Osten noch 23.500 nicht vermittelte Bewerber – und das, obwohl das Ausbildungsjahr am 1. September beginnt, der allergrößte Teil bis dahin also schon vermittelt sein sollte. Ende September 93 war die Zahl der Bewerber in den neuen Ländern dann plötzlich auf 2.918 abgerutscht. Eine ähnlich „günstige“ Bilanz ist auch in diesem Jahr zu erwarten.
Einer der Hauptgründe für das Verschwinden der Lehrstellensuchenden: die Karteibereinigung bei den Arbeitsämtern. Die Jugendlichen, die sich nicht von selbst abmelden, werden einmal im Sommer und schließlich wieder im September angeschrieben, ob sie ihre Bewerbung aufrechterhalten wollen. Wer auch im September nicht antwortet, „wird aus der Kartei gestrichen“, erklärt Volker Rebhan, Referent für Ausbildungsvermittlung in der BA.
Wer nicht antwortet, muß nicht unbedingt eine Lehrstelle gefunden haben. „Von 100 Bewerbern finden vielleicht 50 bis 60 Prozent einen Ausbildungsplatz“, schätzt Stefan Nowack vom Berliner Beratungsverein „Arbeit und Bildung“. „Von den restlichen 40 Prozent meldet sich aber nur noch ein Drittel weiter bei der Berufsberatung. Der Rest taucht einfach ab. So manchen finden wir dann irgendwann arbeitslos in Jugendfreizeitstätten.“ Nicht nur die „Abtaucher“ tragen zur positiven Bilanz bei. Im Endspurt um einen Ausbildungsplatz entscheiden sich viele doch noch für einen außer- oder überbetrieblichen Lehrgang, obwohl die Betroffenen sich nach diesen Ausbildungsgängen später den Arbeitsplatz selbst suchen müssen. Allein 12.000 außerbetriebliche Ausbildungsplätze wurden erst unlängst durch die „Gemeinschaftsinitiative Ost“ in den neuen Bundesländern eingerichtet. Daneben gibt es eine Reihe verschiedener sogenannter Grundausbildungslehrgänge, auch als „Warteschleifen“ für eine „richtige“ Lehrstelle verschrien. „Es gibt einen Automatismus, nicht vermittelte Jugendliche in solche Lehrgänge zu transferieren“, sagt Nowack von „Arbeit und Leben“.
Das Beispiel Eberswalde, hier herrscht die höchste Arbeitslosenquote in Brandenburg. Bis zum Beginn des Ausbildungsjahres 1993/94 im vergangenen Herbst hatten sich hier insgesamt rund 3.700 Bewerber gemeldet, die eine betriebliche Lehrstelle suchten. In der Bilanz am Ende des Jahres blieben nur drei Prozent, nämlich 112 noch nicht vermittelte Bewerber, übrig. Das klingt gut, doch nur 50 Prozent der BewerberInnen hatten tatsächlich einen betrieblichen Ausbildungsplatz ergattert. 17 Prozent landeten in über- oder außerbetrieblichen Ausbildungsgängen, 12 Prozent entschlosssen sich, weiter zur Schule zu gehen. Bei 13 Prozent wurde der genauere Verbleib nicht erfaßt. Zwei Prozent nahmen einen Job an, der Rest blieb als nichtvermittelt in der Kartei. In diesem Jahr wurde in Eberswalde eine ähnlich hohe Anzahl an Bewerbern registriert, „wir rechnen wieder mit nur etwa 100 noch nicht Vermittelten“, schätzt Walter Willneff, Abteilungsleiter der Berufsberatung im Arbeitsamt Eberswalde.
Rein quantitativ betrachtet, besteht somit „eigentlich für jeden die Möglichkeit, daß er irgendeine Ausbildung machen kann“, sagt Peter Hielscher von der Pressestelle des Landesarbeitsamtes Berlin-Brandenburg. Fragt sich nur, welche – und was danach kommt. Nach einer Untersuchung des Bundesinstituts für Berufsbildung (Bibb) – allerdings für die alten Bundesländer – arbeiteten dort drei Jahre nach der Ausbildung nur noch 40 Prozent der Jungen im erlernten Beruf. Bei den Mädchen waren dies immerhin 66 Prozent. „Was wirklich auf dem Markt los ist“, so ein Mitarbeiter der BA, „können wir mit unserer Geschäftsstatistik natürlich nicht abbilden.“ Barbara Dribbusch
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