■ Mitterrands nächtliche Fernsehbeichte: Präsident aller Franzosen
Welcher Politiker tut das schon: sich öffentlich stellen. Über die großen Geheimnisse des eigenen Lebens sprechen. Über das körperliche Leid, die Angst vor dem Tod. Und erst recht über die eigenen Umtriebe im rechtsextremen Umfeld. In Deutschland – Filbinger, Carstens und die anderen – in Österreich Waldheim – wie lange und vergeblich haben wir auf eine solche Stellungnahme von ihnen gewartet.
François Mitterrand, der schwerkranke französische Präsident, ist dieses Wagnis eingegangen. Er gab ein Live-Interview im Fernsehen – ohne Zeitlimit und ohne Tabus. Ohne Vorbehalte berichtete er der Nation über seinen körperlichen Zustand, über die Chemotherapie und über seine Überlebensperspektiven – so, als gehöre sein Körper den Franzosen. Ebenso offen sprach er über seine Verwicklungen in das dunkelste Kapitel der jüngeren französischen Geschichte: über seine Tätigkeit in einer Behörde des Vichy-Regimes, das mit den Nazis kollaborierte, und über seine jahrzehntelange Treue zu alten Kameraden – auch und gerade zu jenen, die für die Deportation Tausender Juden verantwortlich waren.
Mitterrand berichtete über seinen Werdegang – ganz so, als gehöre auch der den Franzosen insgesamt. Sein Weg führte ihn von ganz rechts (wo seine Familie angesiedelt war) über die Kollaboration in den Widerstand und in die Fünfte Republik. Seine Übergänge von der einen in die nächste Phase waren nahtlos. So sehr, daß Mitterrand die alten Kameraden von ganz rechts noch zu dem Zeitpunkt protegierte, als er bereits der erste sozialistische Präsident der Franzosen war. Eine historische Verantwortung mag er in diesen glatten Übergängen dennoch nicht zu erkennen. Das Regime von Vichy bleibt für ihn die Ausnahme, mit der das heutige Frankreich nichts zu tun hat, für die es sich weder verantwortlich fühlen noch entschuldigen muß. Vichy, das war für Mitterrand wie für die meisten anderen Franzosen nicht Frankreich.
Fünfzig Jahre nach der Befreiung ist es dieses Jahr in Frankreich erstmals zu größeren Auseinandersetzungen über die eigene historische Verantwortung gekommen. Ein Indiz dafür war, daß im Frühjahr mit dem Ex-Milizionär und Gestapo-Mitarbeiter Paul Touvier erstmals ein Franzose wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit vor Gericht stand.
Mit Touviers Verurteilung, aber auch mit der Einführung eines nationalen Gedenktages an die Juden- Deportationen aus Frankreich und mit dem Ende der alljährlichen Kranzniederlegung am Grab von Marschall Philippe Petain haben sich neue Perspektiven der Vergangenheitsbewältigung in Frankreich aufgetan. Die Schuld war plötzlich nicht mehr nur die der Besatzer, und die eigene Rolle war nicht mehr nur die der glorreichen Résistance.
Mitterrand, der Sozialist, hat jahrzehntelang mitgemacht bei der kollektiven Verdrängung. Weder bei seiner persönlichen Wende zum Sozialisten noch bei seiner Wahl zum Präsidenten hat er seine Geschichte offengelegt. Er hat das absehbare Ende seiner Karriere abgewartet, um seine Beichte abzulegen. Und um seinen Landsleuten zu sagen: Frankreich ist nicht verantwortlich. Dorothea Hahn, Paris
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