piwik no script img

Ilse Aichingers Parfüm – verweht ...

Ortsbesichtigung: Das Literarische Colloquium heute, eine Servicestation für Schriftsteller  ■ Von Stefan Bruns

Den literarischen Götterhimmel betritt man am Sandwerder 5. Das Tor steht auf, seit Walter Höllerer vor 30 Jahren den Schlüssel der feudalen Gründerzeitvilla erhielt. In der über dem Kleinen Wannsee gelegenen Villa mit Kaminzimmern, Terrasse und Park geben sich seither, angefangen mit der Gruppe 47, die berühmtesten Schriftsteller die Klinke in die Hand.

Eine Kippe von Ingeborg Bachmann erkaltet auf dem Teppich, Hans-Werner Richter kratzt sich unentwegt am Hinterkopf, ein Hauch von Ilse Aichingers Parfüm weht unter einer Arkade, während Sarah Kirsch mit Günter Grass flirtet, und Walter Höllerer läßt sich von Max Frisch erst mit einem Glas trockenem Roten von der lachend erklommenen Eiche zurück an den Erkertisch locken: Im Himmel ging's schon immer heiter zu.

Doch Zeus ist tot, und auch das LCB war zwei Mal totgesagt – „... leben länger!“ hallt es von den Wänden zurück, die schon so viel gesehen haben. Als der Berliner Finanzsenator Anfang 1994 die weltbekannte Literaturvilla am Wannsee verscherbeln wollte, schrien Dutzende von Dichtern auf: Ihr Ursprung werde verraten. Kritiker schrieben, Berlin werde zur geistigen Provinz. Nach dem Desaster mit dem Schiller Theater mußten Diepchen & Co hier klein beigeben.

In der Tat verdankt Berlin dem Literarischen Colloquium mehr, als sich mit ein paar Hunderttausend Mark aufwiegen läßt. Zwei Jahrzehnte lang stand das LCB im eingemauerten West-Berlin für Offenheit, war eine Anlaufstelle für Autoren aus aller Welt, junge Poeten und literarisch Interessierte, war die Schaltstelle im deutschen Literaturgeschehen. Als die Literatur für tot erklärt wurde – hier lebte sie weiter. Heute allerdings erlaubt der Götzendienst an der Einschaltquote nicht mehr, Dichter zu vergöttern. Was allein noch nicht das Schlimmste wäre.

Doch nicht nur die schöne Literatur ist weiter marginalisiert worden, auch das LCB hat seine einmalige Monopolstellung im Berliner Literaturleben verloren, ist seit der Wiedervereinigung an den Rand der Stadt gerückt. Und dennoch – das LCB bleibt Flaggschiff. Es trägt dem Wandel Rechnung. Noch weht der Geist von Bender, Koeppen, Böll und Walser durch die Räume, noch sieht der Spiritus rector Walter Höllerer durch den Türspalt – doch Herr im Hause (und das heißt heute: Herr über die Bilanzen) ist seit acht Jahren Ulrich Janetzki. Er sorgt dafür, daß im Himmel die Lichter nicht ausgehen.

Götter von heute zahlen ihre Stromrechnung, zumal die Götterlehrlinge. Der literarische Nachwuchs steht sozial bei weitem schlechter da als die Generationen zuvor. Es gehörte schon immer zur Zielsetzung des LCB, junge Autoren zu fördern. Zum Beispiel durch arrivierte Schriftsteller. Durch halbjährige Aufenthaltsstipendien in der Villa am Wannsee. Heute ganz konkret mit Workshops zu Copyright und Künstlersozialversicherung. Gute Literatur ist nicht lehrbar. Aber Techniken und Stilkunde kann man vermitteln. „Literarische Höhenflüge immer – aber bitte keinen Ikarus!“ könnte Janetzkis Motto lauten. Neue Geldquellen zu erschließen, ist seine permanente Sorge. Mit der Sockelförderung des Senats, 150.000 Mark fürs Programm, ist zwar noch eine größere Tagung, wie voriges Jahr das deutsch-israelische Autorentreffen, zu bestreiten, aber kein Jahresprogramm. Der promovierte Germanist und Marketing- Fachmann Janetzki hat Sponsoren interessiert, arbeitet mit Radio und TV zusammen, wirbt Drittmittel ein.

Das Übersetzungsförderungsprogramm Mittel-Ost-Europa arbeitet mit Geldern des Auswärtigen Amtes. Es hat seinen Sitz im LCB. Für die Vermittlung kleinerer Literaturen – der katalanischen, sizilianischen, im Februar 1995 der schwedischen – werden auch mal EU-Mittel beantragt. Das ökonomische Risiko der hauseigenen Buch- und Zeitschriftenproduktion – darunter die renommierte Sprache im technischen Zeitalter, die Reihe „Text und Porträt“ – trägt seit 1993 der Aufbau- Verlag. Die Filmabteilung und Renate von Mangoldts Fotoarchiv müssen selber schwarze Zahlen schreiben.

Am schwierigsten ist es, der Literatur „Show-Schaum“ abzuschöpfen. Doch zunehmend gelingt Janetzki selbst dies – gezwungenermaßen, angesichts der mit dem Berliner Doppelhaushalt 1995/96 drohenden weiteren Kürzungen. Im LCB und nirgends sonst verleiht die Stiftung Preußische Seehandlung den Berliner Literaturpreis, hier überreicht Günter Grass seinen Döblin-Preis an den vielversprechenden Nachwuchs.

Die traditionelle Dichterlesung hat ausgedient, sie wird den innerstädtischen Literaturorten überlassen. Hier findet sie nur noch statt, wenn dank Kooperation mit Radio oder Fernsehen angemessene Honorare an die armen Poeten gezahlt werden können. Neue Formen müssen her, multimediale Präsentationen, „was auch immer den Autoren einfällt“. Die junge Generation vor allem soll interessiert werden. Doch Geld, Geld für Experimente, ist derzeit keines da.

So ist das LCB heute weniger ein Ort fürs Publikum denn ein Autorenhaus, eine „Servicestation für Schriftsteller“, so Jenatzki. Hier finden Fachtagungen und Workshops, Übersetzerkonferenzen und Drehbuchwerkstätten statt, Begegnungen von Schriftstellern mit ihren Kritikern, hier werden Filmemacher mit Literaten verzahnt. Neben der Erkundung und Vermittlung der befreiten Literaturen der GUS-Staaten heißt ein neuer, vielleicht überraschender Programmschwerpunkt Amerika, „schlichtweg, weil wir alle in den letzten 20, 30 Jahren vernachlässigt haben, was an neuer Literatur da existiert, weil wir sie gar nicht vermittelt bekommen, jenseits der aufgekauften Lizenzen von Bestsellern“. Toni Morrison etwa war drei Jahre vor dem Nobelpreis im LCB. Da ging es um Minderheitenkulturen in Großstädten mit ihren Problemen. Städtebegegnungen mit New York und Chicago kamen ins Programm, nicht nur Lesungen, sondern Gespräche mit Betroffenen und Funktionären. Zum Service frei Literatenhaus gehörte schon immer ein guter Tropfen. Geschäftsleiter Janetzki schlüpft mit Begeisterung in die Rolle des Wirts, um ein Gespräch zwischen zwei Autoren in Gang zu bringen. Die Hausbar, einst Teil des Offizierskasinos, ist heute die eigentliche Kontaktbörse der Literaturvilla. Ein jüdischer Vorbesitzer soll hier den Talmud gelesen, Carl Zuckmayer „Als wär's ein Stück von mir“ geschrieben haben. Versatzstücke von Legenden über das Haus, die vielleicht so wahr sind wie der Architrav über der Bar echt ist. Doch der Ordner mit der denkmalhistorischen Darstellung der Villa wurde geklaut. Was soll's, Hauptsache, hier werden Ideen ausprobiert, Meinungen ausgetauscht, Kontakte geschaffen. Bei aller Abgeschiedenheit und Muße, bei aller Tradition und Aura, die dieser Ort atmet – der vergötterte Dichterfürst ist passé, und das LCB hat sich auf die neue Zeit eingelassen. Das ist die Basis für kommende Höhenflüge, die Bedingung dafür, daß die Namen derer, die heute ein und aus gehen, dereinst auch auf dem Parnaß ihren Platz finden können.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen