: Westdeutscher als die Westdeutschen
Das Kreuz mit dem Kreuz – eine taz-Serie zum Bundestagswahlkampf: Wenn der Politiker Wolfgang Thierse gegen den Schriftsteller Stefan Heym kämpft, geht es um mehr als nur den Wahlkreis Mitte/Prenzlauer Berg ■ Von Jens König
Die Friseuse am Kollwitzplatz will Wolfgang Thierse schon seit Jahren die Haare schneiden. Seine Frau kommt ja zu ihr, aber er? Heute wird wieder nichts daraus. Sie sieht Thierse, wie er aus dem großen Auto springt – wie immer dunkle Hose, dunkles Hemd, dunkles Sakko – und mit schnellem Schritt in der schweren Tür gleich neben ihrem Laden verschwindet. In dem heruntergekommenen Haus gleich nebenan wohnt er, schon seit über zwanzig Jahren. Letztens wären die Thierses wieder fast aus der Wohnung geflogen, hat sie gehört. Der private Besitzer des Hauses hätte zum zweiten Mal versucht, ihnen fristlos zu kündigen. Hat er aber nicht geschafft.
Hier im Prenzlauer Berg ist Thierse vor vier Jahren als Direktkandidat in den Bundestag gewählt worden. Das will er jetzt wieder. „Wenn wir im Auto mit dem Bonner Kennzeichen unterwegs sind“, erzählt sein Fahrer, „dann rufen einige ,Bonzenschwein‘ hinterher.“
Stefan Heym hat diese Probleme nicht. Über ihn wurde hier schon geredet, als ihn im Prenzlauer Berg noch keiner gesehen hatte. „Schnallt euch fest Boys, es geht wieder los“, war auf den Zetteln zu lesen, die irgend jemand in die Briefkästen geworfen hatte. Mit diesem Satz aus seinem Buch „Filz“ wurde Heyms Direktkandidatur angekündigt – für die PDS. Der und die PDS? Die Leute konnten es erst gar nicht glauben.
Das Zitat ist aus einem Essay, in dem Stefan Heym auch aus einem Schriftstück des Earl of Nottingham zitiert: „Eine Armee von Verbrechern stellt keine Bedrohung der bestehenden staatlichen Ordnung dar. Aber ein aufsässiger Schriftsteller gehört nach Newgate hinter Schloß und Riegel.“ So sieht sich Heym gern selber – als Unruhestifter, als störrischer, bissiger Citoyen.
Wenn man ihn auf der Straße trifft, denkt man so einiges, nur nicht das. Ein Unruhestifter? Heym ist ein kleiner, alter Mann. Sein Gang ist wackelig, sein Rücken gekrümmt. Wenn man ihn anspricht, hält er die Hand an sein Ohr. Er hört schlecht.
Am Eingang der Kulturbrauerei hängt ein großes Plakat. Ein Foto von Kohl, darunter steht: Danke, Genossen von der PDS. „Typisch Sozis“, sagt einer im Vorbeigehen. Der Saal drinnen ist überfüllt. Eingeladen hat die von Günter Grass gegründete Initiative „Bürger für Thierse“; Schlöndorf macht da mit, Hochhuth, de Bruyn, Schorlemmer, viele andere; die Hälfte ist aus dem Westen. „Das hat was von einem Thierse-Schutzbund“, sagt neben mir einer, als die ganzen Namen vorgelesen werden.
Zwei von ihnen – Grass und Staeck, der Graphiker aus Heidelberg, der seit über zwanzig Jahren noch fast jeden Sozialdemokraten im Wahlkampf unterstützt hat – sollen mit Thierse über „Geist und Macht“ plaudern. Sie tun es nur am Rande. Grass ist „überrascht und entsetzt“ über Heyms Kandidatur in Thierses Wahlbezirk. Staeck findet, „daß wir so einen wie Wolfgang im Bundestag brauchen, und zwar als Minister“. Thierse begrüßt die Besucher mit „liebe Nachbarn“ und redet dann, wortgewaltig wie immer, über die „notwendige Gesellschaftsreform“. Erstens, zweitens, drittens, viertens, fünftens, die wichtigsten Punkte aus dem SPD-Programm kommen wie aus der Pistole geschossen: neue Industriepolitik, ökologische Steuerreform, Demokratisierung der Gesellschaft, Verfassungsreform, Bildungsreform. Das stille Publikum bekommt das ganze Partei-ABC buchstabiert.
Sie sei erstaunt, sagt eine Frau aus dem Publikum mit zitternder Stimme, daß Herr Thierse noch an diese ganze Parteiendemokratie glaube, sie könne das schon lange nicht mehr. „Was soll das?“, ruft Thierse zurück. „Ich glaube nicht an die Parteiendemokratie. Sie ist.“
Gleich nebenan, auch auf dem Gelände der Kulturbrauerei, eröffnet Stefan Heym sein Wahlbüro. Es ist frisch renoviert. Genützt hat es nichts, der kleine Raum hat nach wie vor den Charme eines Parteisekretärs- Zimmers aus DDR-Zeiten. Im hellbraunen Vitrinenschrank verliert sich eine einsame Rotweinflasche. „11 Prozent Alkohol“, ist auf dem Etikett deutlich zu lesen, ganz klein darunter steht „5 Prozent PDS“. Dem Plakat an der Wand sieht man an, daß es eben erst angepinnt wurde. Stefan Heym ist darauf zu sehen, mit einem breiten schwarzen Hut, das Hemd lässig aufgeknöpft. „Die andere Stimme“ steht in fetten Buchstaben darüber. Er sieht darauf aus wie eine Mischung aus Philip Marlowe und Karl Moik. „Ein schönes Büro“, sagt Heym. Er ist zum ersten Mal hier.
„Wollen wir uns nicht ein bißchen unterhalten?“, fragt er die Journalisten, die etwas gelangweilt in die Runde schauen. Warum er ausgerechnet für die PDS kandidiere, wirft ihm einer freundlich den Ball zu. „Warum nicht die PDS?“ zeigt sich Heym dankbar für die Vorlage. „Es war die einzige Partei, die mich gefragt hat.“ Ob er denn schon wisse, was er, wenn er gewählt werde, in seiner Rede als Alterspräsident des Bundestages sagen wolle. „Ich werde Ihnen mal was sagen“, antwortet Heym – das sagt er öfter und verfällt dabei in einen leicht belehrenden Ton –, „ich habe schon einige Romane geschrieben, vielleicht wird mit auch noch eine Rede für den Bundestag einfallen. Und wenn die da in Bonn Anstand haben, werden sie mir auch zuhören.“ Dann guckt er rüber zu Ursula Karusseit, der Schauspielerin, die eine Wählerinitiative zu seiner Unterstützung ins Leben gerufen hat. „Die Karusseit schüttelt mit dem Kopf. Wahrscheinlich hat sie recht.“
„Warum tritt Heym nicht dort an, wo er wohnt? Was weiß der denn vom Prenzlauer Berg?“ Wolfgang Thierse ist sauer. Sauer auf Gysi. Und auf Heym, weil dieser sich, da ist er ganz sicher, von der PDS mißbrauchen läßt. Das hat er Heym auch gesagt, als sie sich vor einigen Monaten getroffen haben. Eigentlich wollten sie ja beide nicht miteinander reden, aber Regine Hildebrandt, wie sie so ist, hat beide charmant überrumpelt und zu sich nach Hause eingeladen, zu Kaffee und Kuchen. „Sie ruinieren sich Ihren Ruf als Schriftsteller“, hat Thierse zu Heym gesagt. „Das lassen Sie mal meine Sorge sein“, hat der geantwortet. Thierse weiß, daß er dieses Direktmandat in Berlin unbedingt braucht. Die „Stimme des Ostens“ zu Hause nicht gewählt? Darauf warten die in Bonn nur, auch einige in der eigenen Partei. Verliert er hier, braucht er dort gar nicht mehr anzutanzen. „Der Lafontaine würde mich doch gar nicht mehr angucken.“
„Mir ist nicht bekannt, daß Thierse ein Abonnement auf den Prenzlauer Berg hat“, sagt Stefan Heym trocken. Er weiß, was er seinen Anhängern bieten muß. „Die in Bonn verstehen nichts vom Osten“, sagt er. „Denen muß ein bißchen Dampf gemacht werden. Ich will das gerne tun.“ Für solche Bemerkungen hat er noch auf jeder Wahlveranstaltung tosenden Beifall kassiert, und der hat ihn dann stets zu noch mehr angespornt. „Wenn Sie sagen, ich sei alt, dann kann ich nur sagen: Das ist eine richtige Erkenntnis. Mein Alter hat allerdings einen Vorteil – ich bin nicht bestechlich. Das lohnt sich bei mir nicht mehr.“ Auch an dieser Stelle klatscht das Publikum immer. Es hat seinen Spaß. Und es bekommt noch mehr. „Der Thierse hat doch nicht mal eine abgeschlossene germanistische Ausbildung. Er ist wohl zu früh in die Politik gerutscht. Vielleicht fühlt er sich ja eines Tages berufen, über mich germanistisch zu arbeiten. Das würde mich sehr interessieren. Ich kann ihm dann einige Bücher von mir empfehlen.“
Nur manchmal, wenn er die Bühne des Wahlkampfes wieder verlassen hat, kommen ihm Zweifel. „Was ich vorhin über Thierse gesagt habe – vergessen Sie's bitte. Schreiben Sie es nicht auf. Das war Quatsch.“ Wenn Heym und Thierse auf ihren Wahlveranstaltungen reden, bei denen meistens ihre Anhänger unter sich sind, dann wirkt das seltsam künstlich, irgendwie nur die Hälfte wert, so, als wüßte jeder, daß es eigentlich nicht um die beiden Personen geht, sondern um mehr, und daß sich dieses Mehr nur zeigt, wenn sich beide gegenübersitzen.
Hat nicht auch die PDS alles auf dieses Duell hinauslaufen lassen, als sie Heym mit Absicht Thierses Wahlkreis angeboten hat? Wollte Heym nicht genau das, den Rummel, das Medienereignis, als er Gysi gesagt hat, wenn er für sie antrete, dann nicht irgendwo in der Provinz?
Der Saal im Berliner Verlag ist gerammelt voll. Thierse und Heym laufen durch die Stuhlreihen wie durch ein Spalier, Heym bleibt immer wieder ein Stück zurück. Er kann nicht so schnell. Thierse dreht sich mehrmals um. Es sieht aus, als warte ein Enkel respektvoll auf seinen Großvater. Heym nimmt die Stufen hoch zur Bühne nur mit Mühe und setzt sich vorsichtig auf seinen Stuhl. Das zirzensische Spiel kann beginnen.
„Die ostdeutschen Probleme sind nur gesamtdeutsch lösbar oder gar nicht“, beschreibt Thierse immer wieder seine Grundposition, „und das geht nun mal nicht gegen den Widerstand der Mehrheit der Westdeutschen.“ „Verräter“, schreit einer aus dem Publikum. „So ist das in einer Demokratie“, ruft Thierse zurück. Eine Mehrheit der Westdeutschen hätte eine große Angst davor, daß die PDS auch nur ein Zipfelchen von Macht bekommt. Heym darauf: „Jetzt redet er westdeutscher als die Westdeutschen.“ Tosender Beifall. „Die PDS wird nicht dadurch eine demokratische Partei, daß sie demokratisch gewählt wird“, verteidigt sich Thierse. „Also ich finde, die PDS ist durchaus eine demokratische Partei“, antwortet Heym. „Was haben Sie gegen die?“ Thierse entschuldigt sich in bitterem Tonfall. „Wir Sozialdemokraten können nicht so schnell vergessen. Wie viele haben denn in Bautzen gesessen?“ „Und was war 1914?“ zischt eine Frau aus dem Publikum.
Thierse kämpft gegen die Stimmung im Saal, die Zuschauer stehen mehrheitlich nicht hinter ihm. Er schwitzt. Seine Jacke hat er bereits ausgezogen, jetzt krempelt er die Ärmel seines Hemdes hoch. Wenn er redet, bewegt sich sein ganzer Körper. Stefan Heym sitzt ganz ruhig da. Er weiß, er wirkt allein dadurch, daß er ist. Überall, wo Thierse hinkommt, ist Heyms Mythos schon da. Er sagt nicht viel. In dieser Haltung, mit seinen weißen Haaren, wirkt er ein bißchen wie Gottvater. Er käme nie auf die Idee, sein Jackett auszuziehen.
Von da oben ist der Prenzlauer Berg nur undeutlich zu erkennen. Als ihn der Bezirksbürgermeister fragt, wie er sich für die Instandsetzung der Wohnungen einsetzen will, ruft ihm Heym zu: „Da müssen wir uns mal zusammensetzen und darüber beraten. Sie können mich jederzeit anrufen.“
„Sind Sie für die Abschaffung des Paragraphen 218?“ will eine Frau wissen. „Wir Sozialdemokraten haben in dieser Frage einiges erreicht“, beginnt Thierse und erklärt wortreich die Errungenschaften seiner Partei. Er holt weit aus und spricht über die Vor- und Nachteile von Kompromissen in der Demokratie, über die Vorzüge einer Gewaltenteilung, deren Fehlen die DDR zum Unrechtsstaat gemacht habe. Die Frau, die die Frage gestellt hat, hält es nicht mehr aus. „Also Herr Thierse, in der DDR hat es diese komische Teilung da vielleicht nicht gegeben, aber einen Paragraphen 218 hatten wir da ganz sicher nicht.“ Thierse: „Nicht auf jede einfache Frage gibt es auch eine einfache Antwort.“ Das Publikum lacht. In die aufgeregte Stimmung hinein sagt Heym ganz ruhig: „Also ich bin gegen den 218.“
Viele im Saal stoßen sich nicht an Heyms politischen Allgemeinplätzen, sie stört nicht, daß sich das meiste anhört, als hätte er es aus einer politischen Wundertüte. Im Gegenteil.
Sie werden auch nicht unruhig, als Heyms Konzentration nachläßt und es aussieht, als könnte er jeden Augenblick einnicken. Nach seinen politischen Zielen gefragt, antwortet er nur: „Die habe ich heute nicht mitgebracht.“ Thierse nutzt die Chance und stellt – erstens, zweitens, drittens, viertens, fünftens – das ganze Programm der Sozialdemokraten vor. Stefan Heym nickt ab und zu gütig mit dem Kopf und sagt, als Thierse fertig ist: „Das wollen wir auch. Und noch ein bißchen mehr.“ Beifall.
Die Matadoren verlassen den Saal. Draußen, vor der Tür, schenkt Heym dem Kontrahenten eine PDS-Broschüre über sich, Heym. „Die andere Stimme“ steht darauf. „Für Sie“, sagt er lächelnd. Thierse ist sprachlos. Stefan Heym hat auf das Deckblatt groß sein Autogramm geschrieben.
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