Seen und gesehen werden

Nachsommerliche Ergebnisse soziokultureller Erkundungstouren entlang den Ufern in und um Berlin oder Warum der G.I. den Teufelssee scheute und dicke Karpfen zu Kindern ins Boot sprangen  ■ Von Helmut Höge und Dorothee Wenner

Es gibt eine Theorie, wonach jeder der über 100 Seen im Umland Berlins von je einem besonderen Menschenschlag sommers belagert wird. Wahr ist, daß die Vermischung der Szenen eher in den Badeanstalten stattfindet als entlang der freien Gewässer, wo man sich an den kleinen Sandstränden und schilffreien Uferplätzen schnell wie auf einer falschen Party vorkommen kann.

Am Zehlendorfer Schlachtensee treffen sich vor allem die Beamten der Freien Universität und ihre Studenten – zum Joggen und ebenso sportlichen Schwimmen. Hier wird selten vergnügt geplanscht, man diskutiert auf imaginären Bahnen zur Seenmitte-Boje hin – und wieder zurück. Gleich daneben, an der Krummen Lanke, massieren sich die exzessivsten Ecstasy-Endverbraucher und -Dealer, die neuerdings in einem gewissen Spannungsverhältnis zu jungen Türken stehen.

Wir fragen Thomas, einen Ökonomen von der Humboldt-Universität, wo er denn baden gehe. „Früher sind wir immer an den Liepnitzsee gefahren, da sind jetzt zu viele Westler. Mit meiner Frau fahre ich jetzt meist an den Bötzsee. Da muß man am S-Bahnhof Petershagen aussteigen.“ Wie die meisten Westberliner sind wir es noch nicht gewohnt, das Umland, auch „Speckgürtel“ genannt wegen seiner vielen FKK-Strände, mit öffentlichen Verkehrsmitteln zu erkunden. Beim Anblick von ländlichen Bushaltestellen und Vorortbahnhöfen denken wir unwillkürlich an Autopannen. Zum Glück ist unser geliehener Golf GTX generalüberholt.

Nur leider erweisen sich Thomas' Wegbeschreibungen als zu grob. Mehrmals umrunden wir das Zentrum von Eggersdorf. Erst als man uns quer durch die Verkaufsstände des Wochenmarktes weist, geraten wir auf den Bötzsee-Parkplatz. Es gibt dort viele schattige Buchten, wo man abgewickelte NVA-Offiziere aus Strausberg trifft, deren angenehme Badesitten mit ihrem unaufdringlichem Bodybuilding korrespondieren. Aber dieser positive Gesamteindruck kann auch mit unserer generellen Sympathie für die (nackten) Verlierer einer Systemschlacht zusammenhängen.

Reiche Population an Journalisten

Das Aufspüren von Seen-Geschichten erweist sich indes als äußerst schwierig. Jeder ist vollauf damit beschäftigt, sich zu erholen. Wir haben jedoch Glück: Heuer forscht ungefähr jeder zweite Frontstadtjournalist an Binnengewässern herum. Beim Bootsverleih treffen wir gleich mehrere. Einer, von der Stadtzeitung Zitty, hat sich für diese Saison auf Gedenkstätten an Seen kapriziert. Am Bötzsee ist es die des ersten kommunistischen Bademeisters, Hans „Jupp“ Bötz, der dem See seinen Namen gab. Demnächst soll der See jedoch wieder rückbenannt werden, das Bötz-Denkmal ist bereits geschliffen.

Das Kleist-Denkmal am Kleinen Wannsee, die Gerhart-Hauptmann-Weihestätte am Flakensee, die Thälmann-Gedenkstätte am Krossinsee und das Brecht-Weigel-Haus am Buckower See hat der Zitty-Redakteur bereits abgeklappert. Und Brechts Werbe-Haiku für den Bootsverleih in Buckow: „Es ist Abend. Vorbei gleiten / Zwei Faltboote; darinnen / Zwei nackte junge Männer: Nebeneinander rudernd / Sprechen sie / Sprechend / Rudern sie nebeneinander“, kennt er nicht nur auswendig, sondern er weiß auch, daß der Sechszeiler eigentlich auf einer Beobachtung der Frau des Bootsverleihers basiert. Der kurzsichtige Brecht, an dem Tag ohne Brille mit der Frau am Steg stehend, konnte nämlich gar nicht so schnell das Geschlecht der beiden Paddler erkennen.

Der Buckower See wirkt als „Perle der Märkischen Schweiz“ anscheinend wie ein Magnet auf Westberliner Rechtsanwälte und ihre Lebenspartnerinnen, die, wie auch andere Gutverdiener unter der großstädtischen Intelligenz in diesem „Super-Sommer“, vor allem auf der Suche nach einem Immobilienschnäppchen in Ufernähe sind. Schon zu DDR-Zeiten waren die Datschen am Buckower See jedoch so ordentlich, geradezu rechtmäßig parzelliert und mit kunstvollen Schmiedezäunen verbarrikadiert, daß das Schweizerische ein überaus passender Name für diesen Teil des Flachlands ist. Wer sich erst in diesem Sommer um ein Häuschen im Grünen bemühte, war gut beraten, sich an die Fersen jener 68er zu heften, die mit archäologischem Eifer „Russenobjekte“ im Umland aufspürten, um daraus „Ökoprojekte“ zu entwickeln.

Es gibt auch noch einen Kriegsgewinnler ohne Kaufabsichten. Er fährt regelmäßig mit dem Fahrrad zum Templiner See, wo er, am Caputher Fährhaus bei einem alkoholhaltigen Erfrischungsgetränk, den Sportwagen zuschaut, wie sie forsch auf die Fähre fahren: „Und dabei fast immer mit der Ölwanne aufhauen. Die Porsche erwischt es meist ganz übel!“ Das freut den militanten Mountainbiker und ist ihm bereits Erholung genug. Über dieses Hobby hat er sich jüngst mit seinem Freund verkracht, dessen Interesse auf die allabendlichen Bademodenwettbewerbe an der Westseite des vormals geteilten Sacrower Sees schrumpfte.

Heiter inszenierte Promiskuität

Tatsächlich entdeckten wir dort eine regelrechte Zusammenrottung von „Beach-Queens“ (The Observer) in neonschockfarbenen Ein- und Zweiteilern. Diese Beobachtung läßt uns schnurstracks ins Seen-Soziologische abschweifen. Ein BZ-Seen-Reporter erzählt von den nackten Obdachlosen und Alkoholikern („schräge Vögel“) am Bullenwinkel des Halensees, die dort aufräumen und dafür campieren dürfen. Eine Mitarbeiterin der Modezeitschrift Sibylle weiß Details über das Treiben rund um das vornehme Strandhotel am Wandlitzsee. Kreuzberger Künstlerinnen hätten dort das anspruchsvolle Ambiente als Kulisse für einen erotomanischen Fotoroman entdeckt. Beim Knipsen geriet ihnen die heiter inszenierte Promiskuität so realistisch, daß die Geschichte in einen ernsten Dokumentarfilm rund um den Rheinsberger Schloßsee ausuferte.

Dem bärtigen Berlin-Korrespondenten der Angel-Woche fällt dazu der Frauensee hinter Königs Wusterhausen ein. Dort seien schon mehrmals Kindern beim Rudern „so dicke Karpfen“ ins Boot gesprungen. „Wieso nur Kindern?“ fragen wir. Der Fischexperte führt dies auf ein zentrales Jugendlager der FDJ am Ufer zurück. Früher wurde es vom Werk für Fernsehelektronik verwaltet. Nach der Wende übernahm es der Betriebsrat und machte daraus ein Feriendorf für Kinder.

Viele kommen aus Dänemark, der Betriebsratsvorsitzende ist selbst Däne und ständig auf der Suche nach Feriengruppen, um das Riesenobjekt zu belegen. Schon sind wir beim heiklen Thema „Ausländer“ (an Seen). Dazu fällt uns als erstes ein Grunewaldspaziergang mit einem in Berlin stationierten G.I. ein. Je näher wir dem Teufelssee kamen, wo die Müllcontainer von zerlesenen Hamburger Wochenzeitungen überquellten, desto nervöser wurde der Ami. Wir konnten uns das nicht erklären. Schließlich rückte er damit raus, daß dieser See, weil dort alle nackt baden würden, für Armeeangehörige „off limits“ sei. Daß dort in letzter Zeit sehr viele Russinnen hingehen, weil sich in der Nähe einige Fortbildungseinrichtungen befinden, mochten wir ihm danach gar nicht mehr erzählen.

Der Vietcong und seine Familie baden hingegen oft und gerne an der Kaulsdorfer Kiesgrube, „Kauli“ genannt. Ein flacher, proletarischer Mehrzwecksee von durchaus zweifelhafter Wasserqualität und allzu vielen Muskel- beziehungsweise Milchdrüsenprotzern, aber dafür lauwarm und kinderfreundlich, mit zwei Eisautos am Parkplatz und vielen aufgeblasenen Riesendinos.

Ähnlich werktätig, mit Arbeitslosenbräune durchsetzt, sieht es auch an der „Bürgerablage“ am Heiligensee aus. Gleich dahinter gelangt man jetzt auf den ehemaligen Grenzstreifen, der sich hier bis fast nach Hennigsdorf am See entlangschlängelt als ein quasi von der DDR-Geschichte geformter Sandstrand.

Was ist mit der Wild- schweinpopulation?

Auf halber Strecke trafen wir dort, in einem Datschen-Gartencafé, ein Dutzend Ostfriesen. Ab und an rief einer „Das Grün nach oben!“ zu einigen weiblichen ABM-Kräften hinüber, die gerade dabei waren, den Todesstreifen mit Kiefernbäumchen zu bepflanzen. Die Frauen fanden es aber nicht sonderlich komisch, daß man jetzt einfach die Ostfriesenwitze auf Kosten der Ostler recycelt.

Ihre schlechte Stimmung hielt uns davon ab, sie über die örtliche Wildschweinpopulation auszufragen. Im Westen hatten sich die sommernächtlichen Begegnungen mit Säuen an Seeufern zu regelrechten urban tales entwickelt, insbesondere die von der „Schlacht mit der Luftpumpe“ auf dem Parkplatz des Schildhorn-Restaurants am Wannsee. Als eine Neuberlinerin aus Eberswalde in dem CDU-Ausflugslokal wieder davon anfing, wurde sie jäh von einem Alteingesessenen unterbrochen, die Geschichte kursiere schon seit 1987.

Er wartete daraufhin mit einer aktuellen Version auf, in der statt Wildschweinen eine Gruppe Punker an der Lieper Bucht plötzlich aus dem Gebüsch hervorgestürmt waren. „Die Punker treffen sich aber doch immer am Tegeler Flughafensee“, konterte die gekränkte Brandenburgerin, die sich mit dieser wohlplazierten Szenekenntnis durchaus rehabilitieren konnte.

„Und die Neonazis versammeln sich in einem Ex-FDGB-Heim am Krummen See“, ergänzte ihr Begleiter, der sich dabei auf die Seen- Berichterstattung der Berliner Zeitung berief. Tatsächlich werden dort andauernd nächtliche Neonazitreffen vermeldet. Die Stadt hatte dafür sogar schon eine Wasserschutzpolizeistaffel mit zivil getarnten Schnellbooten ausgestattet.

Wir fühlten uns bemüßigt, hier und jetzt noch einmal zwischen links und rechts zu unterscheiden: „Linkssein heißt nach oben treten und nach unten ducken, und Rechtssein ist das Gegenteil davon: nach oben ducken und nach unten treten.“ Das fand die Schildhorn-Runde nun gar nicht, und außerdem seien „links“ und „rechts“ doch längst überholte Kategorien, „besonders bei solch einem Jahrhundertwetter.“

Wo gehen die Neonazis baden?

Na gut. Wo gehen nun aber die Neonazis wirklich baden? „Am Seddinsee, bei Kähnsdorf, wurde gerade ein illegales Campinglager ausgehoben. Jetzt wird gegen mehrere Jugendliche wegen des Verwendens von verfassungswidrigen Kennzeichen ermittelt.“ Ach du Scheiße: Ausgerechnet in Kähnsdorf! Dort hatte sich gerade ein jüdischer Filmemacher aus England, Andrew Hood, genauer gesagt: seine Freundin, die prima Ärztin Dorothea Ridder, ein Grundstück mit Wochenendhaus gekauft. Von einem blinden Kähnsdorfer Bauern, der, um seine kleine Land- und Gartenwirtschaft zu bestellen, überall Drähte gespannt hat, an denen er sich orientiert.

Gleich am nächsten Tag rufen wir die beiden an. Sie wissen noch nicht einmal von der Neonazi-Razzia nebenan, und erzählen statt dessen von ihrem Ärger mit einer Umweltschützerin, die sie davon abhalten wollte, den zum Grundstück gehörenden Fischteich von Wasserpflanzen zu befreien, um besser darin baden zu können. „Kommt doch einfach vorbei, wir grillen heute abend Hähnchen.“ Das müssen wir leider ablehnen, weil wir bereits eine Thaiessen- Einladung von Zeit-Mitarbeiter Michael Sontheimer haben, der sich neuerdings in ein Haus am Krimmicksee eingemietet hat.

Auf dem Weg dorthin verirren wir uns jedoch und landen an der Müggelspree, der Verbindung zwischen Dämritz- und Müggelsee – im Rialto-Café. Und da nehmen wir erst einmal Kaffee und Kuchen zu uns. Wie es der Zufall will, serviert man uns dazu eine neue brandheiße Seen-Geschichte. Sie betrifft die Wasserfreunde-Gemeinschaft „Energie e.V.“, die 1973 angefangen hatte, das Gelände trockenzulegen, Kanäle anzulegen, und sich Datschen und Bootshäuser zu bauen.

Loblieder auf den Rechtsstaat

Im April kam die Erbin eines dieser Grundstücke aus dem Westen zurück und sperrte den Zufahrtskanal zur Müggelspree ab, weil der Lärm der Boote sie störte. Die 50 davon betroffenen Bootsbesitzer alarmierten den Radiosender 100,6, der seinerseits den Umweltsenator zu einer Stellungnahme aufforderte. Der erklärte die Absperrung für unrechtmäßig. Schon begannen die Bootsbesitzer Loblieder auf den Rechtsstaat zu singen. Aber dann kam es erst zu einer Anhörung und zu einem Widerspruch vor dem Verwaltungsgericht sowie zu einer Reihe weiterer Amtsvorgänge. Kurzum: „Die Absperrung ist bis heute noch nicht weg, aber der Sommer ist vorbei. Ist das Gerechtigkeit?“ wurden wir von einem älteren Herrn am Nachbartisch barsch gefragt. Ein bißchen so, als wären wir mitschuldig.

Am Ende der Badesaison schließen wir nun unsere Recherche ab: Der Liepnitzsee bei Wandlitz – von 13 unterirdischen Quellen gespeist, mit klarem, grünem Wasser – ist unser diesjähriger Lieblingssee. Damit gehören wir zu jener Karawane von Westlern, die an diesem „Seen-Geheimtip“ (SFB, Wochenpost, Tagesspiegel) das dort immer noch harmonisch wirkende Ost-Soziotop aufmischt. Mitten im Liepnitzsee gibt es eine Insel mit einem Dauercamper- Areal. Wer sie besuchen will, kommt kurz rübergeschwommen. Auch Lebensmittel werden von den Zeltern im Ameisenverkehr mit Luftmatratzen auf die Insel transportiert.

Ihnen lange dabei zuschauend, inspiriert uns das zu einem neuen „citybag“-Modell mit aufblasbaren Wulsten an der Seite. Diese grandiose Idee versuchen wir bei nächstbester Gelegenheit gleich der taz, genauer gesagt: ihrer Abteilung für Abonnement-Werbegeschenke, zu verkaufen. Die winkt aber nur müde ab: „Ist zu spät für dieses Jahr. Im nächsten Sommer vielleicht.“