: Deutschland, ewig unbelehrbar?
■ Für Heribert Prantl ist die Bundesrepublik ein Schreckensbild – zu Recht?
„Es ist gefährlich geworden in Deutschland: Hitlers Schatten verblaßt. Ausländerwohnungen brennen. Grundrechte verlieren ihre Kraft. Die großen Parteien betrachten es als ihre größte Leistung, wenn es ihnen mit Zweidrittelmehrheit gelingt, diese Entkräftung zu besiegeln. In diesem Klima keimte und reifte der Ausländerhaß.“ Hieße der Autor dieses Prologs zu seinem „Deutschland – leicht entflammbar“ nicht Heribert Prantl, ich hätte das Buch beiseite gelegt.
Zwar beginnt Prantls Buch mit einer ausführlichen und präzisen Geschichte der Demontage des Asylrechts – aber das Muster seiner Argumentation ist das vielgeübte der Anti-Notstands- und Anti-Volkszählungskampagnen: Die Politiker suchen sich, relativ willkürlich, einen tatsächlich schwierigen und angstbesetzten Problembereich im öffentlichen Leben. Dieser wird in den Medien und auf Parteitagen durch maßlose Forderungen nach schärferen Gesetzen mächtig aufgeplustert. Willfährige Beamte und juristische Fachleute verfassen wider besseres Wissen die erforderlichen Gesetzentwürfe, mit denen dann nur noch die partei- und wahltaktischen Mechanismen in den Parlamenten ausgelöst werden müssen. Wie bestellt, betritt jetzt die meist außerparlamentarische Opposition mit einer Grundsatzkritik und der These vom endgültigen Ende demokratischer Rechte die Bühne. Sieger bleiben die Gesetzemacher, ihre Opponenten organisieren eine gewaltige Abschlußdemonstration und warten auf das nächste Kampfangebot. Dieses Muster hat wiederholt funktioniert. Nach der Demontage des Asylrechts kommt heute unter der heftig geschwungenen Fahne der „Organisierten Kriminalität“ der große Lauschangriff daher. Es folgt eine völlige Entmachtung der Staatsanwaltschaften zugunsten der Polizeien und die Ausstattung der Bundeswehr mit polizeilichen Rechten und Aufgaben. Die Parteien übertreffen sich allesamt, dieses halb verselbständigte Räderwerk aus machtpolitischen Überlegungen zu schmieren.
Eine kritische Öffentlichkeit, die sich diesem substanzverzehrenden Abbau demokratischer Rechte entgegenstellte, gebe es heute jedoch nicht mehr. Fazit des Autors: „Der liberale Rechtsstaat hat keine Hüter mehr.“ Hätte er recht, bliebe nur die Frage, ob es einem diesmal gelingen wird, rechtzeitig zu emigrieren.
Heribert Prantls Thesen sind genau recherchiert. Er stellt die politischen Zusammenhänge und die Abläufe gut nachvollziehbar dar, ihre Bewertung allerdings bleibt einseitig. Prantl ignoriert die doppelte Geschichte der Innen- und Rechtspolitik der Bundesrepublik: Obwohl viele Gesetze verschärft worden sind, hat sich zugleich die demokratische Kultur und das Rechtsstaatsbewußtsein verfestigt.
Studentenbewegung, Bürgerinitiativbewegungen in allen Gesellschaftsbereichen, die Umweltbewegung, die Integration der Grünen zu einer Staatspartei, die von den DDR-Bürgern friedlich erzwungene Wiedervereinigung, die insgesamt betrachtet doch intensive Geschichtsauseinandersetzung, sowohl mit der Nazi-Vergangenheit als auch jetzt mit den Stasi- Verstrickungen, und nicht zuletzt die durchaus pragmatische Europapolitik der Bundesregierung – das alles belegt gefestigte demokratische Grundüberzeugungen in der Bundesrepublik.
Auch hatten die in den letzten Jahren verschärften Gesetze nach ihrer Inkraftsetzung nicht die ihnen vorher zugerechnete Entdemokratisierung des Alltagslebens zur Folge. So sind die Notstandsgesetze, die Berufsverbote, ebenso wie die Volkszählungsgesetze ohne verheerende Wirkung geblieben, was sie natürlich nicht rechtfertigt. Wie kann diese merkwürdige doppelte Wirkung politischer Entscheidungen in der Innen- und Rechtspolitik erklärt weden: Hier die faktische Relativierung demokratischer Rechte durch die die Institutionen immer deutlicher ermächtigenden Gesetze, dort die ebenso unbestreitbare Vertiefung eines demokratischen und rechtsstaatlichen Selbstbewußtseins, was die gesellschaftliche Wirkung der verschärften Gesetze im Alltagsleben korrigiert?
Eine Antwort ist einfach und beunruhigend zugleich. Demokratien sind keine statischen Zustände. Im Gegenteil, es scheint ihre einzige Existenzchance, daß sie im Wandel der politischen Verhältnisse ihre Gewichte an die Veränderungen anpassen, sie verschieben und neu austarieren. Dabei stehen alle Rechte, alle Institutionen grundsätzlich immer bis zu ihrer völligen Aufhebung zur Disposition. Auch ihre Perversion und die Barbarei sind nicht ausgeschlossen. Moralische Argumente, rituell institutionalisierte Kritik, Kassandrarufe oder auch die Rekonstruktion mehr rechter oder mehr linker Wertehimmel werden dieser brutalen Unberechenbarkeit demokratischer Offenheit nicht gerecht.
Um für diese grundsätzliche Unsicherheit zu sensibilisieren, braucht es ein hohes Maß an Anpassungsbereitschaft, an offenem Formulieren von gemeinsamen Interessen und Selbstbehauptungswillen freier Bürger. Denn nur in einem solchen Selbstbewußtsein als politisches Gemeinwesen haben Gesellschaften eine Chance, den ultimativen Widerstandsfall nicht zu verpassen.
Prantls Sicht auf die rechts- und innenpolitische Situation der Bundesrepublik trägt leider zur Analyse der demokratischen Situation in der Bundesrepublik wenig bei. Argumente wie das folgende erscheinen ihm weitaus bequemer: „Wenn die Deutschen wieder ,normal‘ werden wollen, dann sind sie dabei, unnormal zu werden. Wenn die Feuilletons davon handeln, was ,Deutschsein‘ heißt, wenn in den gesellschaftlichen Zirkeln ein ,gesunder Patriotismus‘ gepriesen und in der Politik ,Law and order‘ gepredigt wird, wenn die Deutschen aufgefordert werden, wieder ,unverkrampft‘ zu sein – dann wird es ungesund in der Republik.“ Woher weiß Prantl das so genau?
Können Gesellschaften, wie mit einem genetischen Defekt behaftet, ihre Fehler immer nur wiederholen? Ist es also definitiv ausgeschlossen, daß die wiedervereinigte Bundesrepublik für die Fortentwicklung der Demokratie in Europa eine entscheidende Rolle spielt? Müssen sich wirklich alle anderen vor uns hüten? Und wir uns vor uns selbst? Udo Knapp
Heribert Prantl: „Deutschland – leicht entflammbar“. Carl Hanser Verlag, München 1994, 294 Seiten, 23,80 Mark
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