Schön ist sowieso fast jeder

Gesichter der Großstadt: Der Friseur Claus Sonder (36) kennt sich mit den Menschen, ihren Haaren und Nöten aus / Ein Friseur muß auf alles gefaßt sein  ■ Von Anke Westphal

Gegenüber der „Desinfections- Anstalt“ in der Ohlauer Straße baumeln Handtücher in der Sonne. Das Frisierstübchen übersieht man fast. Drinnen leuchten zitronengelbe Wände und prächtige Blumenbuketts. Auf einer alten Gartenbank neben der Tür harrt ein verliebtes Lesbenpärchen geduldig seiner Verwandlung. Ein graumelierter Altsponti wühlt in den Zeitschriften. Links thront eine Oma unter Lockenwicklern und lauscht Esther Ofarim.

Claus rückt Omas Wickler zurecht und strahlt die Lesben an. Claus mag Menschen. Er ist nicht einfach gern Friseur, sondern ein Frisuren-Maniac. In der Nacht bevor der neue Laden eröffnet wurde, schnitt Claus erst mal allen Handwerkern die Haare. Nach einem fünftägigen Renovierungsmarathon litt er unter Entzug. Claus gehört zu den „Besten vom anderen Ufer“.

1979 kam der jetzt 36jährige aus Stuttgart, „wo es so bieder war“ nach Berlin; er war Freunden hinterhergezogen. Nach dem Abitur und einer Ausbildung zum Krankenpfleger hat er „viele Sachen gemacht“: erst einen Kleiderladen, dann in Discotheken und Bars gejobbt. Ein Jahr Australien, ein Jahr Asien. Mit 28 machte er sein Hobby zum Beruf und ließ sich zum Friseur umschulen. Er ging vom Ku'damm weg, weil er dort zu den Gattinnen der Herren Doktoren „Frau Doktor“ sagen sollte, und er verließ, zusammen mit seinen drei Kollegen, einen berühmten Szenefriseur, weil es dort vielleicht bald wie am Ku'damm zugehen wird. Claus möchte kein streng sortiertes Publikum im Laden. Besonders gern kommen Heterofrauen zu Claus, weil er erstens besonders sensibel auf die Leute eingeht und zweitens „kein Interesse am Damenbein“ hat. Claus ist schwul.

Dafür wurde er schon beschimpft, einmal sogar von einem Kunden. Der flog mit nassen Haaren auf die Straße, denn „soweit darf man sich nicht verkaufen“. Claus schneidet allen die Haare, die „höflich und fair“ sind. Wenn er etwas haßt, dann die latente und um so bigottere Ausgrenzung von Homosexuellen und Aidskranken. Vor zwei Jahren, als die Gelder von „HIV e.V.“ wieder einmal gekürzt wurden, initiierte Claus ein Benefiz-Schneiden, das dem Verein immerhin 8.000 Mark einbrachte. Das nächste Benefiz-Frisieren ist geplant, obwohl der winzige Laden es sich noch gar nicht leisten kann. Und dann gibt es die sonntäglichen „Kaffeekränzchen“ auf der HIV-Station des Auguste-Viktoria-Krankenhauses, die Claus mitorganisiert hat.

Um Claus herum sterben die Leute weg. Im April verlor er seinen Freund durch Aids. Inzwischen ist es so, daß Claus „einen auf der HIV-Station besucht, und plötzlich liegen da sieben, acht Leute, die du alle kennst“. Ein schwuler Aidskranker ist Lichtjahre entfernt vom gängigen schwulen Schönheitsideal. Claus ist nicht infiziert, aber Aids ist für ihn so real wie sein Beruf. Was zählt, ist: „Erst in die Augen sehen, dann auf die Haare.“

In den Spiegeln, die bei Claus hängen, „sind mann und frau sowieso immer schön“. Es sind wunderbare Art-deco-Spiegel, von einem Freund auf Kommissionsbasis geliehen. Auch wenn es jedes Klischee bestätigt – Claus hat eine Kulturmacke. Er liebt Filme von Almodóvar und Monty Python. Er liest unbeschreiblich viel und sammelt, wenn er es sich leisten kann, Art deco. Mittlerweile steht seine halbe Wohnungseinrichtung im Laden. Lauter kleine visuelle Streicheleinheiten für Mitarbeiter und Kunden. Die entspannen sich sichtlich, gut aufgehoben zwischen Ästhetik und Humor, und fangen an zu plappern. Oder besser: zu beichten.

Über Kindererziehung, Beziehungsstreß, Freizeit, das Wetter oder Analverkehr. Ein Friseur muß auf alles gefaßt sein. Niemand, Zahnarzt und Geliebte/r mal ausgenommen, ist so nah an einem Menschen dran. Ein Friseur kann seinen Kunden, die ihm mausgrau und pudelnaß ausgeliefert sind, „praktisch das Ohr auslutschen“. Claus hört gern zu und unterhält sich gern, aber er ist kein Müllschlucker. Nicht wenige Leute scheinen ihren Friseur dafür zu halten, oder zumindest für eine Art preiswerten Psychotherapeuten. Die einzige Therapie bei Claus liegt jedoch darin, das berüchtigte Friseurtrauma zu lindern, an dem jeder mehr oder weniger leidet. Claus versteht das perfekt. Weil er „kein fertiges Ding im Kopf hat“, kann er jedem ein bißchen mehr zu sich selbst verhelfen. Schön sei sowieso fast jeder. Und falls nicht – „selbst Leute mit Strähnchen in der zweimal überkrausten Dauerwelle, sogenannte Schrubber- Faces, können sich verändern“. Ein Satz von wahrhaft philosophischer Tragweite.