: Botschaften aus der Vergangenheit
■ Nelly ist eine der Gefangenen, die in der grünen Minna gen Westen fuhren / Dort bekam sie plötzlich alte Briefe und Fotos, die die Stasi jahrelang abgefangen hatte
Als wir in Plötzensee ankamen, brauchten wir erst mal ein paar Tage nicht zu arbeiten, weil viel Organisatorisches zu klären war. In der Arbeitsverwaltung erzählte man uns, was hier für Arbeitsbetriebe angeboten werden. Hausarbeiter, Putzkolonne, Gärtnerei, Schneiderei, Wäscherei. Da blieb nicht viel zur Auswahl. Jede von uns wußte, was sie die Jahre über gemacht hatte. Wir konnten gut putzen. die Leute aus Hoheneck saßen jahrelang in der Schneiderei, die wußten: Uns bleibt nichts anderes übrig, gehen wir weiter in die Schneiderei.
Ja, und ich? Die letzten Jahre arbeitete ich in Hohenschönhausen im Lager, also im Keller, immer bei Neonlicht. Ich sah schon aus wie ein Grottenolm. Jetzt wollte ich mal an der frischen Luft sein, mich bewegen. Gärtnerei. Das hat mir dann auch Spaß gemacht. Wir waren im Sommer draußen, immer braun gebrannt, herrlich. Wir ernteten ein bißchen eigenes Gemüse. War gut.
Uns paar Ost-Frauen brachten sie zuerst alle auf eine Station in Haus 2. Da staunte man uns mit großen Augen an. So fremd. Die armen Ossis, die vierzig Jahre hinterm Mond gelebt haben. Und dann hieß es: „Setzt euch doch mal hin, wollt ihr Kaffee, wollt ihr dies, wollt ihr jenes?“ Und dann waren sie neugierig. „Wo kommt ihr her?“
Wir blieben sehr ruhig und zurückhaltend. Die anderen fragten uns, wie es drüben zuging. Sie meinten, für uns müßte es doch etwas ganz Wunderbares sein, nun im Westen im Knast zu sitzen. Und wir empfanden es überhaupt nicht so. Wir gingen in unsere Hütten. Keine wurde damit fertig, daß auf einmal Nachteinschluß war. Wir waren fix und alle. Viele weinten nachts. Das Schlimmste kam aber noch. Man legte uns unsere persönlichen Sachen vor, die wir all die Jahre nicht gesehen hatten. Da kriegten wir Briefe, die wir geschrieben hatten und die zurückgehalten worden waren. Wir sahen Fotos, die wir nicht kannten, weil man sie uns nie gegeben hatte. Furchtbar.
Die Vergangenheit rückte auf einmal so nah durch die Post von Verwandten und Freunden. Man hatte geglaubt, die wollten von einem nichts mehr wissen. Warum kriegte man sonst keine Briefe? Warum meldeten die sich nicht? Manche Frauen hatten jahrelang keinen Sprecher [Besuch, Anm. d. Red.] gehabt und sich immer gefragt: Was mach' ich denn bloß, wenn ich rauskomme? Zu wem kann ich gehen? Auf einmal sahen sie, sie standen vielleicht doch nicht allein da. Ein Schock.
Und was nun? Einfach schreiben? Hallo, du, ich bin jetzt in Plötzensee, ich hab' all die Jahre deine Post nicht gekriegt, weil ich bei der Stasi saß. Die hat die Briefe zurückgehalten. Aber man wußte nicht, ob die Adresse noch stimmt. Und ob derjenige jetzt noch Kontakt wollte. Ich versuchte es. Oft schrieb ich bis nachts um zwei Briefe. Und ich hatte Glück. Ich kriegte Antwort.
Aus: Erika Berthold, Claudia von Zglinicke: „Ich will nicht mehr vor mir selber fliehen“. Erschienen im Aufbau-Verlag.
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