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Realwirtschaftliche Verdrängungskunst

Wahlkampf pur: In der gestrigen Wirtschaftsdebatte des Bundestags warfen sich Regierung und Opposition gegenseitig verfehlte wirtschafts- und finanzpolitische Rezepte vor  ■ Aus Bonn Erwin Single

„Alles, was bisher an Konjunkturprognosen auf dem Markt war und in den nächsten Tagen noch auf den Markt kommt, ist Schnee von gestern.“ Nirgends blüht unsere Wirtschaft so prächtig wie in den Reden des Bundeswirtschaftsministers, nirgends ist der Aufschwung so kräftig wie in den Köpfen der Bonner Koalitionspolitiker.

Da ließ Günter Rexrodt (FDP), selbstbewußt wie eh und je, den Bundestag gestern in der Wirtschaftdebatte wissen, er rechne in diesem Jahr mit einem Wachstum von real 2,5 Prozent; im nächsten sollen es sogar drei Prozent werden. Auch die Arbeitslosigkeit werde mit etwas mehr als 3,7 Millionen im Schnitt um gut und gerne 150.000 gegenüber den im Jahreswirtschaftsbericht prognostizierten Zahlen abnehmen. Und selbst Arbeitsminister Norbert Blüm (CDU) versicherte treuherzig, es seien „erste Fortschritte am Arbeitsmarkt“ erkennbar. Darauf ist der Wirtschaftsminister besonders stolz, denn die Regierung habe durch ihre Wirtschaftspolitik das marktwirtschaftliche Fundament dafür gelegt.

Bricht in Bonn die Zeit der starken Sprüche an, geht es gewöhnlich ums Geld oder Wählerstimmen. Diebische Freude kommt im Regierungslager deshalb erst über eine ganz andere Sache auf: Die günstigen wirtschaftlichen Daten, prophezeit „Hexi-Rexi“ (Parteispitznahme), entzöge der Wahlkampfstrategie der Sozialdemokraten den Boden. Die hätten, fügt er hinzu, auf die Rezession und die Angst der Menschen gesetzt.

Am liebsten würde sich Rexrodt nur im Lichte seiner Erfolge sonnen: für den Aufschwung gesorgt, die Konjunktur gerettet, den Standort gesichert. Wenn da nur nicht die notorischen Miesmacher aus der Opposition wären. Oskar Lafontaine, der saarländische Ministerpräsident zum Beispiel. Noch nie habe ein Aufschwung unter so ungünstigen Vorzeichen gestanden, konterte der Schattenfinanzminister die Schönfärbereien Rexrodts. Mit „hohlem Pathos“ dürfe nicht über die Arbeitslosigkeit von vier Millionen Menschen hinweggetäuscht werden. Die Regierung setzte „falsche Prioritäten“: „Nicht die Entsendung von Kampftruppen in alle Welt, sondern die Bekämpfung der Arbeitslosigkeit im eigenen Land muß die Hauptaufgabe der deutschen Politik sein.“

Wie weit der günstigere Konjunkturverlauf noch von einem selbsttragenden Aufschwung entfernt ist, dafür lieferte Lafontaine gleich mehrere Gründe: Sinkende Massenkaufkraft, eine Rekordbelastung bei Steuern und Abgaben, steigende Zinsen. Auch habe sich unter der derzeitigen Regierung eine „riesige Schere“ in der Einkommensverteilung zu Lasten der Arbeitnehmer aufgetan. Das Eigenlob des Wirtschaftsministers für den neuen Exportboom wollte er erst recht nicht gelten lassen: „Die Nachfrage aus dem Ausland steuern nicht Sie, bei der Nachfrage im Inland haben Sie versagt.“

Der Regierung warf Lafontaine vor, das im Stabilitätsgesetz verankerte Ziel eines hohen Beschäftigungsgrades deutlich verfehlt zu haben. Dieses will die SPD mit dem gestern eingebrachten Gesetzesentwurf um eine ökologische Zielsetzung erweitern. Und weil man Kassandra nicht wählt, will sich die SPD im Falle eines Wahlsiegs damit freilich nicht begnügen. Dann soll, so Lafontaine, eine drastische Kurskorrektur in der Wirtschafts- und Finanzpolitik vorgenommen werden, zu der auch die Abschaffung des von der Koalition geplanten Solidaritätszuschlags zugunsten einer zehnprozentigen Ergänzungsabgabe für Besserverdienende gehört.

Die Bonner Wirtschaftspolitik, eingeklemmt zwischen einen Berg rasch wachsender Schulden und Strukturproblemen sowie dem tiefen Wunsch, ja nichts umzukrempeln und keinen treuen Freund des Marktes enttäuschen zu müssen, gewinnt mit Rexrodt immer deutlicher die Qualitäten magischen Tuns. Anstelle der tatsächlichen Handlung mit wahrnehmbarer Wirkung tritt deren Ersatz, das bloße Wort, bei günstiger Gelegenheit das gesprochene, bei anders gelagertem Bedarf das geschriebene. In die erste Kategorie gehört die gestrige Regierungserklärung. Wer die Wirtschaftspolitik der letzten vier Jahre Revue passieren läßt, wird kaum Höhepunkte ausmachen können. Was von dem Rapport bleibt, ist der dünne Medienhall einer Wahlkampfrede, in der der Minister die Erfolge der Regierung rühmt und scharfe Kritik an seinen Widersachern, dem SPD-Troikanern Gerhard Schröder und Oskar Lafontaine übt. Eine Kostprobe: Da seien „68er am Werk, die den Anschluß verpaßt hätten“; beide setzten als Ministerpräsidenten auf staatliche Investitionslenkung, was nichts anderes als „Sozialismus durch die Hintertür“ bedeute.

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