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Auf Tauwetter folgt Schneematsch

■ In Jewgeni Jewtuschenkos neuem Roman dreht sich der russische Bär

Es ist ein ebenso schwieriges und hochachtenswertes wie seltenes Unterfangen, wenn ein Schriftsteller sich daran macht, die jüngste Geschichte seines Landes als Breitwandpanorama abzubilden. Der Russe Jewgeni Jewtuschenko, literarischer Shooting Star zu Anfang der sechziger Jahre und „angry young man“ der Sowjetliteratur, ist nicht davor zurückgeschreckt. Sein neuer Roman „Stirb nicht vor deiner Zeit“ setzt in den frühen Fünfzigern ein und endet mit der Niederschlagung des Putsches gegen Gorbatschow im August 1991.

Lange hat man nichts von Jewtuschenko gehört. Sein Ruhm begründete sich auf der Häme, mit der ihn die Partei- und Staatsführung der UdSSR für sein subjektives, für die offizielle Politik nicht verwertbares Pathos bedachte. „Poet“ wurde er von den Greisen der Macht tituliert, und das war abwertend gemeint.

Schon 1958 hatte man die Säle, in denen der damals 24jährige Jewtuschenko las, wegen des unvorstellbaren Andrangs mit berittener Miliz abriegeln müssen. Der Erfolg, die Hunderttausenderauflagen seiner Lyrik und die sich daraus ergebene Reisefreiheit, wurden ihm geneidet. Man fand ihn „arrogant“. Jewtuschenkos Geste war nun aber einmal Gewitter und Landregen. Nicht umsonst verehrte er Majakowski.

„Stirb nicht vor deiner Zeit“ ist, so Jewtuschenko, wie der Borschtsch, eine bunt zusammengewürfelte, dicke russische Suppe. Fiktive Geschehnisse und Figuren werden in wunderbar rücksichtsloser Montage- und Mosaiktechnik mit authentischen gepaart: Politik trifft einfaches Volk, Chronik der Erfindung, Gorbatschow und Jelzin, die Zoodirektorin Alwetina oder den rothaarigen Installateur Van Gogh, der für den Kampf um die Demokratie ein frisches Hemd aus dem Schrank holt. Nicht wenige russische Autoren bedienen sich dieser Technik, die bequem ist, aber schnell in die Nähe des Manierismus gerät. Jewgeni Popow ist das beste Beispiel dafür.

Jewtuschenko kann man eher einen gewissen Hang zum Folkloristischen vorwerfen. Der Dichter läßt, um bei der Folklore zu bleiben, den großen russischen Bären in seinen Bastschuhen tanzen. Es ist ein schwerfälliger, unberechenbarer Tanz. „Rußland kann nicht leben, ohne einen zu heben“, das fröhliche Motto eines KGB-Offiziers aus dem Roman, wird einmal mehr zum Kennzeichen der Russen. Wer einmal dort war, weiß, daß das so ganz falsch nicht ist. Aber es ist eben nicht alles, und Jewtuschenko weiß das. Seine Helden sind Trinker und Henker, Verlierer und Dumpfköpfe, aber auch Standhafte und unheilbar Liebende. Ihr Weg durch die Lager Stalins, unter den von den Tribünen am Kreml winkenden Händen Chruschtschows, eines „weinerlichen“ Breschnew, eines „Sonette schreibenden“ Andropows oder Tschernenkos entlang, ist in Jewtuschenkos Lesart ein großer Leidensweg des Opfer-und-schuldig- Werdens, an dessen Ende das Licht der Perestroika flimmert. Ein inzwischen schon etwas trübes Licht, aber immerhin ein Licht. Auf Tauwetter folgt zunächst Schneematsch.

Der Autor als stürmischer Augenzeuge ist immer dabei. Er plaudert aus seinem Privatesten, immer elegant, immer erheiternd, ganz Charmeur. Jewtuschenko ist der hungrige Junge, der auf den Bahnhöfen Sibiriens für ein Stückchen Brot Lieder singt, die hohle Berufenheit so mancher Dissidenten verhöhnt, die Verehrung der sich um ihn scharenden „Jewtuschenkologen“ wenigstens ein bißchen genießt und jedem Rock hinterherläuft. Da kann das Zimmer nicht klein genug sein, damit jede Besucherin unweigerlich im Bett landen muß. Bekenntnisse des Künstlers als älterer Herr, der „nur ein Mensch“ sein will. Als er gegen die stummen Weisungen zu Chruschtschows Begräbnis fährt, kotzt er vor Angst. Am Morgen des Putsches unterbricht er seinen täglichen Waldlauf nicht.

Jewtuschenkos Roman grenzt vielleicht haarscharf an das, was man gemeinhin als „Russenkitsch“ bezeichnet, eine Mischung aus Groteske, Tragödie und überbreitem Pathos. Und doch umschifft Jewtuschenko dieses ja auch recht hübsche Klipplein raffiniert: Er hat gründlich einen mit den russischen Satirikern gehoben. Zu den schönsten Passagen des Buchs zählt die, in welcher der Gang der Geschichte an einem Klosettbecken und den vielen, dasselbe beglückenden Hintern beschrieben wird. Auf die Frage jedoch, was Politik denn nun eigentlich sei, läßt er seinen Roman-Gorbatschow zwischen getrockneten Apfelringen und Pilzen keine Antwort finden. Ein klein wenig hat er Recht damit. Anke Westphal

Jewgeni Jewtuschenko: „Stirb nicht vor deiner Zeit“. Aus dem Russischen schön übersetzt von Susanne Veselov, Europaverlag, 564 Seiten, geb., 49,80 Mark

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