: Trompetenattacke aufs Winterpalais
■ Kabarettistisch wie bäuerisch spielte das „Chamber Orchestra of Europe“ beim Bremer Musikfest
Aus dem mächtigen, schwarz glänzenden Klavier tönt leicht angeschrägt, aber unverkennbar Beethoven, das Streichorchester mag wohl Tschaikowski spielen, eine einsame Trompete bläst heftig zur Attacke aufs Winterpalais, am Pulte kichert der Dirigent in sich hinein, der Virtuosin Gesicht aber verklärt sich, als ertrinke und versinke sie in Rachmaninows melancholischen Klangwogen.
Diese eindrucksvolle kabarettistische Spitzenleistung bot sich am Samstag abend den staunenden KonzertbesucherInnen in der Glocke. Das Bremer Musikfest hatte geladen, das „Chamber Orchestra of Europe“, das phänomenale, zu hören, wie es Viktoria Postnikowa, die begnadete unter dem Dirigat von Gennadi Rozhdestvensky, einem der großen und ganz in der Tradition eines Oleg Popow stehenden Taktstockschwingers begleitete. Sie spielten das 1. Klavierkonzert von Dmitrij Schostakowitsch, das zwischen Lenins Tod und Stalins Alleinherrschaft entstanden ist.
Ein Klavierkonzert in der jungen Sowjetunion muß einfach dem Anspruch genügen, die nationale Tradition eines Tschaikowskij, Rubinstein und Rachmaninow zu krönen mit proletarischer Siegeszuversicht. Schostakowitsch, damals noch nicht als der „Begabteste und Talentierteste“ von allerhöchster Seite anerkannt, erlaubte sich den Spaß, Publikum und Kulturbürokratie, die damals gerade das alleinseligmachende Rezept des sozialistischen Realismus entdeckt hatte, die Zunge rauszustrecken. Sein Klavierkonzert verarbeitet seine eigenen höchst unterschiedlichen Erfahrungen als Pianist in traditionellen Konzertbetrieb, im Kino als Stummfilmbegleiter, in der Kneipe und im Theater. Und er ironisiert auch seine Erfahrungen als Komponist der Revolution.
Der gewaltige sinfonische Apparat wird drastisch reduziert auf ein Streichorchester, das für Schlußapotheosen zwingend erforderliche schwere Blech muß durch die Trompete vertreten werden. War sie in des Meisters dem 1. Mai und dem Roten Oktober gewidmeten frühen Sinfonien noch Träger revolutionären Pathos, so klingt sie hier doch eher nach Kindertrompete. Zu hören war am Samstag eine durchweg kongeniale Wiedergabe, mit Nicholas Thompsons kindlichem, aber rotzfrechem Trompetenton und einem auf trockenen Witz setzendem Dirigat. Nur Frau Postnikowa bemerkte erst im letzten Satz, daß sie nicht Tastenlöwin sein, sondern Tastenlöwin spielen sollte. Dies partielle Mißverständnis steigerte das Hör- und Sehvergnügen allerdings ins Unermeßliche.
Zuvor erklang des jungen Benjamin Britten Opus 1. Seine Sinfonietta für Kammerorchester erfuhr eine auf klare Konturen setzende, zuweilen etwas lakonische Wiedergabe.
Nach der Pause ging der Spaß für Orchester und Dirigent und für das Publikum mit einem Dvorakreißer weiter. Dvoraks 8. Sinfonie, die allerorten Dirigenten dazu verführt, sie auf Hochglanz poliert in Breitleinwandformat zur klangprächtigen Wirkung zu bringen, wurde abgespeckt serviert. Das bekam ihr prächtig. Expressiv aufgeladene Details, dramatisch straffes, theatralisch sparsames, durchaus mit Augenzwinkern dosierendes Musizieren, das jedem Instrument seinen authentischen Klang gönnte, brachen mit bäurisch breiten Tempi die glatte Oberfläche auf und hörbar wurde ein Dvorak, wie man ihn aus seinen frühen, hierzulande leider kaum gespielten Sinfonien kennt: naiv, in unbegrenzter Fabulierlaune, gewichtig aber auch schmissig und zuweilen von den eigenen Emotionen überwältigt, immer aber mit Erdberührung. Die Ackerkrume am Bauernstiefel hört man immer mit.
Rozhdestvenky animierte seine Musiker mit sparsamer, aber wirkungsvoller Zeichengebung und mit ausdruckstarkem, komödiantischem Mienenspiel zur Höchstleistung. Dies färbte auch aufs Publikum ab, das lautstark und hingebungsvoll für diesen Samstagabend dankte.
Mario Nitsche
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen