: Die Aura der Putzmittel
Eine gummiartig weitbare Zone zwischen Original und Reproduktion: In Hamburg wird „Das Jahrhundert des Multiples“ nachgestellt ■ Von Hajo Schiff
Wenn Kunst alles ist, was ein Künstler macht, kann er die Sammler leicht versorgen: mit Künstlerscheiße in Dosen. In einer Auflage von 90 Exemplaren. Piero Manzoni fragte damit 1961 nach den Grenzen des Kunstbegriffs. Heute ist Manzoni zwischen den 130 Künstlern der retrospektiven Großausstellung „Das Jahrhundert des Multiples“ in den Hamburger Deichtorhallen immer noch ein bißchen provozierend.
Dabei sind nicht nur die erwartbaren Kartons mit Kleinkunst, sondern auch größere und museumsgeweihte Arbeiten in Mengen aufgelegt worden: kinetische Maschinen, Videoskulpturen, lebensgroße Pferde und selbst ganze Rauminstallationen. Die Hamburger Aneinanderreihung von Kunstdingen, die nur gemeinsam haben, mehrfach zu existieren, findet ihre Ruhepunkte in den Miniretrospektiven von Claes Oldenburg, Joseph Beuys und Richard Artschwager, die jeweils eine größere Gruppe von Arbeiten päsentieren, sowie den Kojen der legendären Editionen MAT, Hundertmark und VICE Versand. Vom auch für diese Kunstsparte als „Vorläufer“ reklamierten Marcel Duchamp werden fünf der sechs bekannten Versionen seines Minimuseums, der „Boite-en-valise“ (Schachtel im Koffer) von der ersten Ausgabe 1941 bis zur posthumen von 1968 gezeigt.
Peter Zimmermanns Nummer 390 aus 391 in Serie katalogisierten Objekten zeigt in Öl auf Leinwand den Buchtitel von Walter Benjamins Essay „Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit“ als Kommentar zur Praxis der Theorie – der Diskurs könnte sich nun anderen Themen zuwenden. Aber ein Ende all der vielgestaltigen Erörterungen zum Dreieck aus der Sache, ihrem Begriff und der Verknüpfung mit dem möglichen Benutzer ist nicht abzusehen. Pop-art hat die Warenwelt zu Kunst gemacht, inzwischen schlägt der Markt zurück und macht die Kunst zur Ware. Heute werden selbst Putzmittel in verschiedenfarbigen Flaschen als „Limited Edition“ angeboten und versuchen damit, etwas vom schon arg ramponierten Rest der Aura von Einmaligkeit zu ergattern. In der aktuellen Kunst hat Einzigartigkeit zwar ihren Marktpreis, aber keinen hohen theoretischen Stellenwert mehr, und manche Kunstedition wird ohne Probleme unlimitiert produziert. Auf der anderen Seite plündern Museen den Zeichenvorrat der ihnen anvertrauten Bilder und vermarkten ihn mit allen Tricks. Das New Yorker Guggenheim-Museum etwa vertreibt in Anlehnung an Gemälde von Franz Marc eine dreidimensionale bunte Stoffkuh und zu kubistischen Picassos hölzerne, auf den Philippinen handbemalte Anstecknadeln als Souvenierkitsch der durch Europa tourenden „Meisterwerke“-Ausstellung.
In so einem Umfeld hat die Idee des Multiple, der dreidimensionalen „Originale in Serie“, es schwer, einen glaubwürdigen Platz zu behaupten. Jede Vervielfältigung von Objekten über drei Exemplare hinaus, die von einem Künstler autorisiert wurde, wird seit den fünfziger Jahren so bezeichnet. Auch die historisch gegliederte Hamburger Retrospektive leistet trotz des vollmundigen Jahrhunderttitels keine bessere Definition. Die Deichtorhallen nutzen die Gelegenheit, selbst als Verleger von acht exklusiv neu erstellten und als Anbieter von fünfzig in Kommission genommenen Multiples aufzutreten. Statt des Betrachters wird der Käufer angesprochen – mit einer Texttafel in Aluminiumguß von Jenny Holzer für 6.800 Mark; oder „Fischring und Stern als Set im Karton“ von Katharina Fritsch für 1.800 Mark oder diversen Uhren und Holzpostkarten bis zur für eine Mark erhältlichen Metaidee von Hans Peter Feldmann: nur ein gedruckt vervielfältigtes Konzept für ein Multiple vorzulegen. Der Kunstbetrieb persifliert sich selbst und auch der letzte Glaube an orginale Werte weicht der kultivierten Flohmarktstimmung. Der Laden wird zum gleichberechtigten Teil der von einer englischen Privatbank mitgesponserten Ausstellung und zur realen Konkurrenz der künstlerischen Ironie, die die zentral positionierte Baker- Shop-Inszenierung von Claes Oldenburg mit gipsenem Hochzeitskuchen, eisernem Knäckebrot und Profiterolles aus Aluminiumguß noch ausstrahlt.
Vom künstlerischen Konzept her dienen Multiples zwei verschiedenen Zwecken: Vor allem die Fluxus-Kunst wollte didaktisch den Kunstbegriff unterwandern und im Sinne eines Lehrmittels billig Material zur kreativen Benutzung durch den Verbraucher produzieren. Dafür prägte Robert Filiou das Motto: „Ein Werk besteht in der Keativität, die es auslöst.“ Dagegen steht der Satz von Joseph Beuys: „Wenn ihr alle meine Multiples habt, dann habt ihr mich ganz.“ In 625 verschiedenen Multiples verbreitete er massenhaft die eigene Weltsicht und beförderte so einen recht konservativen Künstlerkult. Sein Satz erinnert an das kultische Multiplikationsobjekt schlechthin: die Oblate, in der sich der christliche Gott jeden Sonntag seinen Jüngern hingibt. Die mit zwölftausend Stück auflagenstärkste Beuys-Edition ist ein bis auf das handschriftliche Wort „Intuition“ leerer Holzkasten. Er kostete 1968 nicht mehr als zehn Mark. Heute reicht trotz der hohen Auflage das Hundertfache nicht mehr zum Erwerb. Eine Entwicklung, die Spekulanten und Beuys-Besitzer sicher begrüßen, die aber mit dessen Prinzipien nichts zu tun hat.
Auch wenn der Begriff Multiple wesentlich zur Kunst der Moderne gehört, ist die Sache selbst nicht neu. Seit jeher gab es Kopien und kunsthandwerkliche Vervielfältigungen, von antiken Grabbeigaben über Kleinbronzen der Renaissance bis zu aktuellen Gimmicks der Design-Branche, mit Signatur des Entwerfers. Wo Kunst sich aller nur denkbaren Techniken bedient, ist auch die Auflagenkunst entsprechend vielfältig, und dazu irritiert noch der Handel mit sehr breiter Verwendung des Etiketts Multiple: Oft wird der ganze Bereich an Druckgrafik gleich mit dazu gezählt, wie bei der Düsseldorfer Messe „Art Multiple“, am letzten Wochenende. Die Hauptstraße zwischen emanzipatorisch gedachter Multiplikation von Kunst und mystischer Teilhabe am ×uvre eines Künstlers ist schlicht und einfach das Geschäft, der blühende Markt in der gummiartig weiten Zone zwischen Original und Reproduktion.
P.S.: Wenn Ihnen dieser Text (oder gar die ganze heutige taz) nicht gefällt, machen Sie's ganz einfach wie Dieter Roth 1961: zu Papierbrei einkochen, Gelier- und Würzstoffe hinzufügen, in Kunstdarm füllen, nach Wunsch etikettieren und verkaufen.
„Das Jahrhundert des Multiple“, bis 30.10., Nördliche Deichtorhalle, Hamburg. Halbleinenes Katalogbuch mit Texten von Stefan Germer, Claus Pias und Katerina Vatsella herausgegeben von Zdenek Felix im Oktagon Verlag, 251 Seiten, 48 Mark.
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