: Solingen in der Nacht zum 29. Mai 1993
Im Solinger Mordprozeß streiten sich Anklage und Verteidigung um den Zeitablauf / Konnten die Angeklagten die ihnen zur Last gelegte Tat überhaupt begehen? / Wann brach der Brand im Haus Untere Wernerstraße aus? ■ Aus Düsseldorf Walter Jakobs
„Der Angeklagte Gartmann belastet sich und zwei seiner Mitangeklagten zu Unrecht, denn er kann zum Zeitpunkt der Brandlegung nicht am Tatort gewesen sein.“ Schon aus diesem, den Kern der Verteidigungsstrategie exakt beschreibenden Schlüsselsatz des Verteidigers Georg Greeven, läßt sich die Brisanz ablesen, die in der zeitlichen Rekonstruktion jenes Brandanschlages steckt, der in der Nacht zum 29. Mai 1993 fünf türkische Mädchen und Frauen in Solingen tötete. Um jede Minute wird deshalb seit Beginn des Solinger Mordprozesses im hochgesicherten Düsseldorfer Prozeßgebäude gerungen. Denn zwei der Beschuldigten bestreiten die Tat.
24.00 Uhr
Laut Anklage verläßt das Trio Markus Gartmann, Felix K., und Christian B. um diese Zeit in der Nacht zum 29. Mai einen Polterabend.
Etwa 0.10 Uhr sollen sie dann in der Wohnung des Bekannten Karsten H. eingetroffen sein. Als Aufbruchzeit wird von mehreren Zeugen, die bisher im Prozeß noch nicht gehört worden sind, der Zeitraum zwischen 24.00 Uhr bis 0.30 Uhr angegeben. Den Antrag der Verteidigung, die Vernehmung dieser Zeugen vorzuziehen, weil die „drei Angeklagten den Polterabend viel später verlassen haben müssen, als für die Aufrechterhaltung des Anklagevorwurfs zu tolerieren ist“, hat das Düsseldorfer Oberlandesgericht abgelehnt. Daraus kann man schließen, daß für den Düsseldorfer Senat jene Aussagen schwerer wiegen, die als Aufbruchszeit etwa 24.00 Uhr angeben.
0.40 Uhr
Laut Anklage verläßt das Trio die Wohnung von Karsten H. um diese Zeit. Vom Wohnungsinhaber Karsten H. liegen dazu völlig gegensätzliche Aussagen vor. Weil er zeitweise gegenüber Polizei und Medien von einer Aufbruchszeit „nach 2.00 Uhr“ berichtet hatte, flimmerte er bundesweit immer wieder als der Alibizeuge über die Mattscheiben. Diese zeitliche Festlegung ist auf jeden Fall falsch. Als Zeuge vor dem Düsseldorfer Gericht meidet Karsten H. auch jede Festlegung. Einmal spricht er während seiner Vernehmung aber davon, die drei seien „gegen Mitternacht“ gekommen und mindestens 30, höchstens 60 Minuten geblieben. Wichtig ist in diesem Zusammenhang die Zeugenaussage von Christiane M., die im selben Haus wie Karten H. wohnt. Sie ist sich „absolut sicher“, in der Nacht zwischen 0.30 Uhr und 0.45 Uhr gehört zu haben, „wie mehrere Personen die Treppe runter gingen“. Die Zeugin ist in der fraglichen Nacht zusammen mit ihrem Freund Karl-Heinz G. Von einem Kneipenbesuch aus Düsseldorf gegen 0.30 Uhr zurückgekehrt. Während ihr Freund, der sich im hinteren Teil der Wohnung befindet, nichts hört, will sie, direkt in der Diele stehend, die Schritte vernommen und einzelne Satzfetzen aufgeschnappt haben.
1.38 Uhr
Der Bransatz zündet.
Die Anklage geht – wie von dem geständigen Markus Gartmann geschildert – davon aus, daß das Trio sich nach Verlassen der Wohnung quer durch die Stadt bewegt, den vierten Angeklagten Christian R. zufällig trifft, sich an einer Tankstelle den Brandbeschleuniger besorgt, und gegen 1.38 Uhr das Haus der Familie Genç in Brand setzt.
Beamte des Bundeskriminalamtes (BKA) gingen die Strecke im „normalen Schrittempo“ von rund vier Kilometern pro Stunde ab. Sie benötigten 63 Minuten. Hätten die drei, wie von der Anklage unterstellt, die Wohnung von H. gegen 0.40 Uhr verlassen, wären sie demnach erst um 1.43 Uhr am Tatort gewesen.
1.42 Uhr
Der erste Hilferuf bei der Feuerwehr geht ein.
Das BKA ließ die Strecke daraufhin noch einmal mit einer Geschwindigkeit von etwa 7,5 Kilometern pro Stunde – ein Tempo, das, so die Verteidigerkritik, einem „Eilmarsch der Bundeswehr“ entspäche – abgehen. Nun schaffen die Beamten die Strecke in 40 Minuten. Tatsächlich läßt sich der Weg bei zügigem Schrittempo unterhalb des „Eilmarsches“ – das haben inzwischen auch Journalisten im Selbstversuch überprüft – in weniger als 60 Minuten bewältigen. Ausgeschlossen ist es bei dem unterstellten Aufbruchszeitpunkt also nicht, daß das Trio den Tatort gegen 1.38 Uhr erreicht.
1.47 Uhr
Die Feuerwehr erreicht den Tatort.
Da steht das gesamte Haus nach den Worten des Einsatzleiters Frank-Michael Fischer „nahezu vollständig“ in Flammen. Die Vorbrennzeit beziffert Fischer in seinem schriftlichen Bericht „grob geschätzt“ auf „20 bis 30 Minuten“. Diese Zeitangabe spielte in der Verteidigungsstrategie und der Medienberichterstattung bisher als Beleg dafür, daß der Zeitrahmen der Anklage nicht stimmen könne, eine bedeutende Rolle. Viel übriggeblieben ist davon seit dem Zeugenauftritt des Einsatzleiters in der vergangenen Woche indes nicht. Fischer räumt vor Gericht ein, daß seine Zeitangaben auf „reinen Vermutungen“ beruhten. Er habe keinerlei Untersuchungen angestellt, sondern die Angaben allein aufgrund seiner Erfahrungen als Feuerwehrmann „rein gefühlsmäßig“ gemacht. Fischer wörtlich: „Es kann auch ganz anders gewesen sein.“
Wann also wurde der Brand gelegt? Fest steht, daß die Täter im Windfang des Eingangsbereiches den Brand entfachten. Nach Darstellung von mehreren Zeugen hat sich das Feuer offenbar „rasant“ ausgebreitet. Ahmet Ince, einer der Überlebenden des mörderischen Anschlages, sagt im Zeugenstand aus, er sei in der Nacht um 1.38 Uhr von Schreien, Lärm und Poltern aus dem Schlaf gerissen worden. Durch das Treppenhaus habe er da schon wegen des Qualms nicht mehr vom Dachgeschoß des Hauses nach unten fliehen können. Träfe diese, bisher von keinem weiteren Zeugen bestätigte exakte Zeitangabe zu, müßte das Feuer früher gelegt worden sein als von der Anklage unterstellt.
1.35 Uhr
Ein in unmittelbarer Nachbarschaft des abgebrannten Hauses lebender neunzehnjähriger Koch schildert seine Erlebnisse in jener Nacht so: Er habe vor dem Fernseher gesessen und gegen 1.35 Uhr ein Klirren auf der Straße gehört, aber zunächst darauf nicht reagiert.
Erst als er wenig später einen Feuerschein bemerkt, war ihm klar, daß es nebenan brannte. Zunächst habe er „nur gesehen, daß der Eingang brannte“. Als er wenig später auf die Straße gelaufen sei, „brannte das Haus schon in der ganzen Breite.“
Im Oktober wird der Solinger Prozeß mit der Vernehmung von weiteren Überlebenden und Zeugen aus der Nachbarschaft fortgesetzt.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen