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Titanic in der Ostsee

■ Fast 850 Tote bei Fährunglück vor der finnischen Ostseeküste / Ursache noch unklar

Turku/Stockholm/Bonn (AFP) – Bei dem schwersten Fährunglück in der europäischen Nachkriegsgeschichte sind gestern fast 850 Menschen in der Ostsee ertrunken. Die estnische Autofähre „Estonia“ sank nach Angaben der finnischen Küstenwache um 0.24 Uhr rund hundert Kilometer vor der finnischen Ostseeküste, nur fünf Minuten nach einem SOS-Funkruf in stürmischer See. Sie war unterwegs von Tallin nach Stockholm. Rettungsteams bargen in den ersten zehn Stunden nach dem Unglück mindestens hundert Überlebende, hatten jedoch bei Wassertemperaturen von zehn Grad Celsius und Wellen bis zu sechs Metern Höhe kaum noch Hoffnung für die anderen Passagiere. Nach Angaben der Rettungsleitstelle in Turku befanden sich 779 Fahrgäste und 188 Besatzungsmitglieder an Bord der Unglücksfähre. Eine Sprecherin des Auswärtigen Amtes in Bonn sagte, unter den Passagieren seien bis zu neun Deutsche gewesen.

Die Ursache war auch gestern nachmittag noch unklar. Nach den Schilderungen eines Überlebenden kenterte die „Estonia“, weil eine der beiden Heckklappen sich während der Fahrt auf See öffnete. Wegen einer offenen Heckklappe war 1987 die Fähre „Herald of Free Enterprise“ vor dem belgischen Hafen Zeebrugge gesunken. Der 25jährige estnische „Estonia“-Matrose Henrik Sillaste berichtete, das Wasser sei durch die geöffnete Klappe in das Fährschiff eingedrungen. „Das Wasser strömte herein, stand bis zu meinen Waden. Dann begann die Fähre zu kippen.“ Dagegen hielten die Rettungsdienste auch andere Erklärungen für möglich. So befanden sich an Bord der Fähre 32 Autos und Lastwagen, die wegen des Sturms auf eine Seite der Fähre gerutscht sein und dadurch für Schlagseite gesorgt haben könnten. Nach anderen Berichten hatte die Fähre einen Motorschaden. Inspekteure der schwedischen Seefahrtsbehörde hatten am Dienstag, also direkt vor der Unglücksfahrt der „Estonia“, mangelhafte Dichtungen und Gummileisten an einer Bugklappe des Schiffes entdeckt. Das bestätigte der Sprecher der Behörde, Erik Vedin, nachdem die schwedische Seemannsgewerkschaft gleichlautendende Beschuldigungen erhoben hatte.

„Das ist die größte Katastrophe, von der Schweden in der Neuzeit heimgesucht wurde“, sagte der schwedische Ministerpräsident Carl Bildt. Die Mehrzahl der Opfer stammte aus Schweden und Estland. In Estland, Finnland und Schweden wurde Staatstrauer ausgerufen.

Warum die Fähre trotz Sturmwarnung auslief, war nach den Worten von Carl Gustaf Aakerhielm von der Betreibergesellschaft Estline unklar. Nach Angaben des dänischen Wetterdienstes betrug die Windgeschwindigkeit zum Zeitpunkt des Unglücks rund 55 Kilometer pro Stunde. Erst während der Rettungsarbeiten habe ein Sturm mit bis zu 90 Kilometern pro Stunde eingesetzt. Die Überlebenden litten nach Angaben der Rettungsdienste an Unterkühlung. Die „Estonia“ wurde 1980 in der deutschen Meyer-Werft in Papenburg gebaut. Sie hat eine Kapazität von 2.000 Passagieren. Die 15.556-Tonnen- Fähre ähnelt in der Betriebsweise der „Herald of Free Enterprise“, bei deren Havarie 193 Menschen starben. Seite 3

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