: Rußlands „gesellschaftlich nützliches Element“
■ Zivildienst ist in Moskau auch nach dem Ende der Sowjetunion nicht vorgesehen
Moskau (taz) – In Sachen Zivildienst herrscht in Rußland noch immer Gesetzlosigkeit. Diesen Umstand illustrierte in der zurückliegenden Woche eine Verhandlung vor dem Volksgericht des Moskauer Bezirkes Tschertanowo. Der Prozeß zog sich bereits seit 1988 hin. Damals klagte das Verteidigungsministerium der UdSSR gegen den Wehrpflichtigen Alexander Pronosin. Der hatte ein Jahr zuvor, im zarten Alter von 17 Jahren, an den Verteidigungsminister und späteren Putschisten Dimitrij T. Jasow einen Brief geschickt: Er könne den Dienst mit der Waffe nicht mit seinem Gewissen vereinbaren und fordere eine Ersatzbeschäftigung im zivilen Bereich. Der Junge erwies sich als vorausschauend. Denn während sich Jasow von der Verfassung entfernte, bewegte sich diese auf Pronosin zu. Seit 1992 ist die Möglichkeit eines zivilen Ersatzdienstes in einem Zusatz zur Verfassung der Russischen Föderation erwähnt. Sascha Pronosin – mit Brille und ordentlich zu einem Pferdeschwanz gebündelten Haaren –, das Urbild eines Pazifisten, erklärt heute seine Überzeugungen als Folge der Lektüre von Tolstoi, Dostojewski und Gandhi. Im Laufe der Jahre gewann er Mitkämpfer und Symphatisanten.
So erfuhren die Russinnen im Lauf der Woche gemeinsam mit dem verblüfften Richter, daß in Rußland seit Jahren eine „Transnationale Radikale Partei“ existiert, die sich auf die Lehre Gandhis stützt, dazu eine „Wahrhaft Rechtgläubige Kirche“. Deren Erzbischof trat elegant als Zeuge auf. Er klopfte mit dem edelsteingeschmückten Knauf seines Bischofstabes dem Angeklagten auf die Schulter und bezeichnete ihn als „überzeugten und starken Kämpfer für die Menschenrechte“. Aber Verfassung hin, Verfassung her – ein Gesetz über den Zivildienst oder gar Durchführungsmechanismen sind auf der weiten russischen Flur nicht in Sicht. Die meisten jungen Männer kommen nicht einmal auf die Idee, derartiges in Erwägung zu ziehen, und nach wie vor verfolgen Einberufungskommissionen ihre Kandidaten bis in deren Elternhäuser. Ende November will deshalb die Kirche der Quäker einen Kongreß zu Fragen des zivilen Ersatzdienstes in Rußland abhalten. Das Gericht zog sich am Donnerstag aus der Affäre, indem es den Prozeß einstellte: „Im Zusammenhang mit veränderten Umständen“ und weil der Angeklagte heute nicht mehr als „gesellschaftlich gefährlicher Bürger“ anzusehen sei. Pronosin soll nun nicht mehr zur Armee. Trotzdem will er Berufung einlegen, er besteht nämlich darauf zu dienen: nur eben zivil. Außerdem möchte er jetzt gerichtlich als „gesellschaftlich nützliches Element“ anerkannt werden. Barbara Kerneck
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