: Blutiges Wochenende in Haiti
Schüsse gegen Pro-Aristide-Demonstration zum Jahrestag des Militärputsches / US-Soldaten griffen nicht ein / Nach Kritik verstärkte Aktionen gegen rechte Killertruppen ■ Aus Port-au-Prince Hans Christoph Buch
„Finger am Abzug“ und „Grabstein“: so lauten die Titel zweier Filme, die in den Kinos im Stadtzentrum von Port-au-Prince gespielt werden. Dort demonstrierten am Freitag vormittag etwa zehntausend Aristide-Anhänger, um Blumen am Friedhof niederzulegen zum Gedenken an die Opfer des Militärputschs vom 30. September 1991. Der gewaltlose Protest gegen die Militärherrschaft endete in Chaos, Tränen und Blut: in der zum Friedhof führenden Rue de l'Enterrement – nomen est omen! – wurden die zumeist jugendlichen Demonstranten von Schlägertrupps angegriffen und aus einem Büro der rechtsextremen FRAPH heraus beschossen. Die mit Gewehren und Pistolen bewaffneten attachés – die Killerkommandos der Armee – machten regelrecht Jagd auf Demonstranten. Die verteidigten sich mit Knüppeln und Steinen: als Bilanz der blutigen Ausschreitungen sind drei Tote – einer von ihnen angeblich ein attaché – und Dutzende von Verletzten zu beklagen, unter ihnen ein Fotograf der Agentur Reuters, den ein Streifschuß am Kopf traf.
Dabei hatte der Tag hoffnungsvoll begonnen: mit einem Gedenkgottesdienst zum dritten Jahrestag des Putschs in der bis zum letzten Platz besetzten Kathedrale von Port-au-Prince, bei dem Bilder des gestürzten Präsidenten gezeigt und Slogans der von den Militärs verfolgten Lavalas-Bewegung gesungen wurden. Anstatt Gleiches mit Gleichem zu vergelten, rief der Aristide nahestehende Priester Yves Voltaire seine Landsleute zu Eintracht und Versöhnung auf: Nicht Rache, sondern Gerechtigkeit sei die Grundlage der Demokratie. Unbeschreiblicher Jubel erhob sich, als er die baldige Rückkehr des demokratisch gewählten Präsidenten ankündigte, der in den Augen vieler Haitianer zum Märtyrer und Messias geworden ist. „Ba–m Titid!“ (Gebt mir Aristide zurück) schrie eine alte Frau und wälzte sich wie in Trance verzückt am Boden. Aber der Freudentaumel war nur von kurzer Dauer.
Zur gleichen Zeit hatte eine Menschenmenge in der Nähe des Hafens ein Lebensmitteldepot erstürmt, das einem Namensvetter von Polizeichef Michel François oder diesem selbst gehören soll. Szenen wie aus Dantes Inferno: Trauben keuchender und schwitzender Menschen wälzten sich im Schlamm im Kampf um Milchbüchsen, die aus den Fenstern im ersten Stock geworfen wurden, gefolgt von Zuckersäcken, die beim Aufprall zerplatzten und die Plünderer unter sich begruben. In der Menge eingekeilte Reporter fotografierten und kommentierten das Geschehen, während sich Autos und Lastwagen wild hupend einen Weg durch den Menschenauflauf bahnten. Ein Plünderer fiel vom Dach und wurde mit gebrochenen Beinen in einem Taxi abtransportiert. Der vom Regen aufgeweichte Boden war mit Pfützen aus Kondensmilch und Blut überschwemmt, durch die mit Zuckersäcken beladene Diebe wateten; im Innern des Gebäudes schien sich ein Depot von Küchenmessern zu befinden, denn viele der Plünderer trugen wie Piraten Messer im Mund. Das rief wiederum eine US-Militärpatrouille auf den Plan, die vergeblich die Menge zu entwaffnen versuchte. In dem geplünderten Lebensmittellager wurde später eine Leiche gefunden, die unter einem Berg von Zuckersäcken begraben lag. Die Bilanz des Wochenendes in Port- au-Prince: dreizehn Tote und über hundert Verletzte.
Der tägliche „body count“ gehört inzwischen zur journalistischen Routine in Haiti, wo selbst die US-Army sich aus den Nachrichten von CNN informiert. Die Frage, die sich hierzulande allen Beobachtern stellt, ist, warum sie nicht eingegriffen hat, um die geschilderten Ausschreitungen zu verhindern. Die US-Truppen waren rechtzeitig vorgewarnt: sie hatten Panzer in Stellung gebracht und waren an allen strategischen Punkten der Stadt präsent, aber als friedliche Demonstranten von Provokateuren der FRAPH beschossen wurden, war weit und breit kein GI in Sicht. „Unser Auftrag lautet nach wie vor nicht, als Polizei des Landes Haiti zu dienen. Das ist Aufgabe der haitianischen Polizei“, rechtfertigte Armeesprecher Barry Willey nach den Straßenschlachten die Untätigkeit der US-Truppen.
Erst am Samstag wurden die Wachleute des Lagers entwaffnet, die von den US-Truppen für die Schüsse in die Menge verantwortlich gemacht werden. US-Soldaten umstellten das Gebäude.
Die vielfach geäußerte Kritik an der Passivität der US-Einheiten zeigte offenbar Wirkung, denn auch in anderen Teilen des Landes gingen die Entwaffnungsaktionen weiter. In der Stadt Ouanaminthe übernahmen die US-Einheiten eine der größten Kasernen der haitianischen Armee – rund 1.000 Waffen wurden beschlagnahmt. Auch der Stützpunkt „Admiral Killick“, wo die haitianische Armee ihre Killertruppen, die berüchtigten attachés, ausbildete, wurde von US-Marineinfanteristen besetzt. 150 Schußwaffen und Munition wurde beschlagnahmt.
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