: Ein Teufelskreis?
■ Jährlich 500 Anzeigen wg. sexuellen Mißbrauchs / Dunkelziffer weitaus höher
Kindliche Sexualität nur noch unter dem Aspekt des Mißbrauchs zu betrachtem, davor warnte gestern Hertha Richter-Appelt, Sexualforscherin an der Uniklinik Eppendorf. Für die sexuelle Entwicklung eines Kindes sei das katastrophal. Sie reagierte damit auf die jetzt vom Senat veröffentlichte Statistik, nach der in den vergangenen fünf Jahren mindestens 3000 Kinder in Hamburg sexuell mißbraucht worden sind.
Ärger rief bei Richter-Appelt die Äußerung der Hamburger Jugendamtsleiterin Gitta Trauernicht hervor, die in einem Interview „jeden Mann als potentiellen Täter“ bezeichnete. Durch solche Stellungnahmen werde das Problem nur verschleiert: „Das heißt doch, ich brauche mich nicht mehr damit zu beschäftigen, welche Menschen wirklich eher zu Mißbrauch neigen“, so die UKE-Forscherin.
Aus der Senatsantwort auf eine SPD-Anfrage geht hervor, daß in der Hansestadt jährlich etwa 500 Anzeigen wegen sexuellen Mißbrauchs erstattet werden. Meist standen die Täter in keiner Beziehung zu dem Kind. Fachleute gehen aber davon aus, daß die meisten Fälle von Mißbrauch durch Familienmitglieder verübt werden – die Dunkelziffer liegt dementsprechend hoch. In 90 Prozent der Hamburger Fälle wurden Kinder zwischen sechs und 14 Jahren mißbraucht, jedes zehnte betroffene Kind ist jünger als sechs Jahre.
Hertha Richter-Appelt erläuterte, daß die Täter oft Gefangene in einem Teufelskreis sexuellen Mißbrauchs seien: „Unter den Tätern findet sich ein relativ hoher Prozentsatz von Personen, die selbst als Kind mißbraucht wurden.“ Trotz der Probleme für das Kind stelle sich die Frage, ob der Zusammenbruch der Familie als Folge einer Anzeige nicht häufig traumatischer für das Kind sei als der Mißbrauch selbst. Außerdem sei die Verteufelung von Sexualität eine schlimme Folge aus der öffentlichen Diskussion, betonte die Sexualforscherin. dpa
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