■ Zur Kritik einer falsch gestellten Frage
: Vollbeschäftigung?

Ein Problem ist etwas, für das es eine Lösung gibt. Wenn man einen belastenden Sachverhalt als ein „Problem“ definiert, dann bedeutet das eine semantische Weichenstellung, die besagt: Man muß bloß gründlich genug nachdenken, die richtigen Fachleute konsultieren, die richtigen Prioritäten setzen und dann entschlossen handeln – dann ist die Lösung, der Ausweg nicht zu verfehlen.

So gesehen ist die Arbeitslosigkeit kein „Problem“, sondern ein fataler Zustand. Arbeitslosigkeit ist kein Problem, weil Vollbeschäftigung keine realistische, deshalb auch nicht verantwortlich in Aussicht zu stellende Lösung ist. Es hilft nicht, diesen unbewältigten und schmerzhaften Zustand mit noch so dicken Portionen der weißen Salbe sozialdemokratischer Vollbeschäftigungsrhetorik zu bestreichen. Wir werden uns auf den Zustand dauerhaft einrichten müssen, daß ein großer Teil der erwachsenen Bürger beiderlei Geschlechts in „normalen“ Arbeitsverhältnissen kein Unter- und Einkommen findet. Die Preisfrage ist nur noch, ob und wie es uns gelingt, diesen Zustand in einer Weise auszugestalten, die sozial und politisch einigermaßen unschädlich bleibt.

Die neuen Verhältnisse einer nachkommunistischen Globalisierung führen dazu, daß innerhalb der Europäischen Union die Arbeitslosigkeit auf einem hohen Niveau verharrt, daß beschäftigungspolitische Erfolge einzelner Länder und Regionen nur auf Kosten wachsender Arbeitslosigkeit in anderen Ländern zu erzielen sind und daß die Logik des jobless growth die Entwicklung der Beschäftigung von der Entwicklung der Konjunktur abkoppelt. Die EU-Gesellschaften bleiben reich – das ist der Unterschied zu den Bedingungen der Weltwirtschaftskrise am Ende der zwanziger Jahre. Aber es fehlt ihnen ein institutioneller Mechanismus, der es erlauben würde, ihren eigenen Reichtum auf die Gesellschaft insgesamt zu verteilen.

Was wir gegenwärtig in Europa als Reaktion auf diese neue Lage erleben, ist eine Politik der mehr oder weniger kontrollierten Demontage von Beschäftigungs- und Sozialkosten. Der Ausbruch aus der wettbewerbsschädlichen Festung von Arbeits- und Einkommensverhältnissen de luxe vollzieht sich unter der Diktatur der Weltmarktdaten und wird von einer wachsenden „Volksfront des Kapitals“ auch politisch getragen.

Offen ist, ob und auf wie lange Sicht eine Politik der kontrollierten Demontage der arbeits- und sozialrechtlichen Statusrechte jene verzweifelten Reaktionen abzuwehren in der Lage sein wird, die wir bereits beobachten: auf der einen Seite den links-militanten Kampf um den staatlichen Schutz von Arbeitsplätzen, auf der anderen den rechts-chauvinistischen Kampf um staatlichen Schutz vor „fremden“ Arbeitskräften.

Solche düsteren Perspektiven ergeben sich, wenn man an der Vorstellung festhält, daß ein konstantes Volumen an Erwerbspersonen zu sinkenden Kosten angeboten und in Beschäftigungsverhältnisse gedrückt werden müsse. Eine andere, wesentlich weniger geläufige Lesart des Arbeitsmarkt- Ungleichgewichts ist diese: Was wir brauchen, ist nicht eine Vermehrung der Arbeitsplätze, sondern eine Verminderung des Arbeitsvolumens, also des Produkts von beschäftigungssuchenden Personen und der pro Person angebotenen Arbeitsstunden.

Dieses Denkmodell beherrschte die Arbeitszeitpolitik Mitte der achtziger Jahre. Seine Schwäche besteht darin, daß es in der Praxis gerade für die Beschäftigten selbst „moralisch anstrengend“ wird, diesem Modell zu folgen. Warum sollte „ich“ bereit sein, kürzer zu arbeiten (und damit so oder so auf Einkommen beziehungsweise Einkommenssteigerung verzichten), nur damit „du“ ebenfalls Beschäftigung findest, zumal ja gar nicht sicher ist, wie „er“ (der Arbeitgeber) mein Arbeitszeit-Opfer honorieren wird (oder kann)?

Das Ergebnis ist, daß man auf der Angebotsseite des Arbeitsmarktes weder in personeller noch in zeitlicher Hinsicht viel ausrichten kann. Das gilt jedenfalls so lange, wie die Normalitätsvorstellung ungebrochen ist, daß Wert und Erfolg des einzelnen Lebens sich am Arbeitsmarkt und in einem gelungenen Erwerbsleben offenbaren. Diese Normalitätsvorstellung ist ebenso abwegig wie zwingend. Sie ist abwegig, weil sie viele Menschen in ein Rennen hineintreibt, das sie nur verlieren können. Sie ist andererseits zwingend, weil die herrschenden Institutionen der Arbeitsgesellschaft die Dinge, auf die es im Leben ankommt (also außer Einkommen auch Freiheit, Unabhängigkeit, Sicherheit, Anerkennung, Selbstachtung) faktisch denjenigen Menschen vorbehalten, die sich vorzugsweise als Arbeitnehmer im Erwerbsleben bewähren.

Je prekärer und unwahrscheinlicher jedenfalls es wird, daß jede erwachsene Person eine sichere, befriedigende und angemessen bezahlte Arbeit findet und behält, desto aggressiver wird – im Verhältnis zwischen den Generationen, den Geschlechtern und den ethnischen Gruppen – der Wettbewerb um dieses „Gut aller Güter“, desto heftiger wird die subjektive Identifikation mit seinem Wert. Die Aufwertung, die dieser überwältigenden Wertschätzung formeller Arbeit gegenüber nun das Leben ausßerhalb des Arbeitsmarktes (in der Familie, in der Gemeinde, im eigenen Garten, in Kooperativen, Netzwerken und Vereinen) nach der Vorstellung mancher konservativer Propheten erfahren soll, müßte demgemäß schon wesentlich mehr als eine billige moralische Anpreisung von Verzicht, Bescheidenheit und Gemeinsinn sein.

Die Aufwertung der freien Zeit und der selbstbestimmten Tätigkeit, mit der sie ausgefüllt werden könnte oder, umgekehrt: die gesellschaftliche Relativierung der Markt-Arbeit ist ein Projekt, das die moralische, institutionelle und ökonomische Kernstruktur demokratischer Industriegesellschaften berührt. Diese Gesellschaften sind nämlich ratlos und institutionelle Vorbilder mit dem Problem konfrontiert, daß ihr Reichtum von einem sinkenden Anteil der Bürger erzeugt, aber von allen Bürgern ein ausreichender Anteil an diesem Reichtum beansprucht wird. Solange annähernd alle Erwerbspersonen an der Erzeugung des Reichtums beteiligt sind, löst sich dieses Problem durch den Arbeitsvertrag jedes einzelnen. Nachdem dies nicht mehr der Fall ist und dieser vermeintliche Normalzustand unwiderruflich verlorengegangen ist, kommen für die Lösung des Verteilungsproblems nur wirtschaftliche Bürgerrechte in Frage, die alle Bürger sich gegenseitig zugestehen. Wie so etwas aussehen würde, das kann man in drei Grundsätzen sagen (wenn auch sicher nicht in drei Legislaturperioden realisieren).

1. Niemand hat das Recht, ganze Kategorien der Bevölkerung (nach Geschlecht, nach Alter, nach Nationalität, Qualifikation und so weiter) von der Teilnahme am Arbeitsmarkt zu verbannen.

2. Wenn alle erwachsenen Bürger zwar kein „Recht auf Arbeit“, aber sehr wohl ein Recht auf Teilnahme am Anbieter-Wettbewerb um Beschäftigung haben, dann tun alle diejenigen, die auf die Teilnahme an diesem Wettbewerb freiwillig verzichten, all denen einen Gefallen, die an diesem Wettbewerb weiterhin und mit entsprechend verbesserten Erfolgschancen teilnehmen möchten. Sie haben folglich einen Anspruch auf eine Gegenleistung für diesen Gefallen. Diese Entschädigung sollte als ein Bürgerrecht auf Grundeinkommen konzipiert sein, an keinerlei weitere Voraussetzungen (der Bedürftigkeit, des Familienstandes und so weiter) geknüpft sein, aus Steuern finanziert werden und für die Dauer der Nichtteilnahme am Arbeitsmarkt das Niveau erreichen, das für eine bescheidene Lebensführung erforderlich ist.

3. Bei den Entschädigungen für einen Verzicht auf Teilnahme am Arbeitsmarkt, der individuell jederzeit rückgängig zu machen ist, handelt es sich nicht um eine bloße „Stillegungsprämie“ für Arbeitskraft, sondern um die Ermutigung des Versuchs, das eigene Arbeitsvermögen in einer anderen Weise als durch seinen „Verkauf“ gegen Lohneinkommen zu nutzen.

Außerhalb des Nahbereichs von Haushalt und Familie sind solche Verwendungsmöglichkeiten freilich nicht leicht zu finden. Vielmehr ist die Entwicklung von Industriegesellschaften ja dadurch gekennzeichnet, daß sie die Arbeitskraft in eine „Modernisierungsfalle“ hineintreibt: Allen informellen und selbstversorgenden Tätigkeitsformen gegenüber schien für lange Zeit die Marktarbeit so viel lohnender, daß sie weitgehend ausgestorben sind – und jetzt, wo der Arbeitsmarkt das angebotene Arbeitsvolumen nicht mehr aufnehmen kann, stehen sie als subsistenzwirtschaftliche Reserve nicht mehr zur Verfügung. Informelle Alternativen nützlicher Tätigkeit werden sich leider nicht „von selbst“ oder auf gutes Zureden hin eröffnen; sie müssen „neu erfunden“, gefördert und ermutigt werden.

Diese institutionelle Neuordnung des Arbeitens behebt zwar nicht die Arbeitslosigkeit, könnte aber das gesellschaftliche Klima entspannen. Claus Offe

Professor am Zentrum für Sozialpolitik an der Universität Bremen; zuletzt erschien zusammen mit anderen Autoren: „Arbeit 2000“ bei rororo