piwik no script img

■ Zum kollektiven Selbstmord einer SekteArmageddon, diesmal schweizerisch

Wie immer beklagen Leipziger Volkszeitung und CDU den Verlust unseres Wertesystems und rufen nach der heilen Familie und dem vorbeugenden Staatsanwalt. Dabei ist der Konservatismus selbst schizophren mit seiner Sehnsucht nach dem bindungslosen, hypermobilen Jungmann samt Großfamilie und Eigenheim. Aber mit dem Wahn ist das so eine Sache. Prophezeie ich beispielsweise für übermorgen den Weltuntergang, wäre eine kleine Insulinkur fällig. Kann ich davon ein paar Leute überzeugen, wären wir schlimmstenfalls eine Sekte. Und würden wir vom Weltuntergang weder Tag noch Stunde wissen, aber unbeirrbar daran glauben, wären wir gute Christen. Besteht der Wahn nun im Glauben an den Weltuntergang oder vorrangig in dem an dessen Zeitpunkt? Paranoid ist beides.

Wie das Schweizer New-Age-Armageddon zeigte, braucht's nicht einmal das FBI aus Waco für einen Zünder. Eine Zufallskonstellation von Naturkatastrophen und Astronomie reicht, und auf der Frankfurter Buchmesse steht noch unverkohlt der Stand mit dem Schrifttum dazu. Luc Jouret war ein Vielschreiber, wenn auch kein sehr beachteter. Seine noch im Handel befindlichen Weltuntergangsberechnungen interessierten nur wenige. Schließlich gibt es noch gut dreihundert „Rosenkreuzer“-Gruppen, seinen „Orden des Sonnentempels“ seit Dienstag nicht mehr mitgerechnet. Die Grenze zwischen Spinnerei und kollektiver Selbstgefährdung ist nicht auszumachen: Auf den Guru kommt es an.

Nicht ganz zufällig hängt allerdings das Wuchern solcher New-Age-Zirkel mit dem Neokonservatismus der Reagan-Jahre zusammen. Der geforderte „neue Glaube an alte Werte“ hat auch den Sekten Wachstum gebracht, hat auch dort dynamischen Unternehmerpersönlichkeiten gefährliche Nimbusse aufgestülpt. Schließlich geht es selbst in der Politik längst nicht mehr um Tatsachen, sondern um „Überzeugen“ – derzeit bis zum Knochenkotzen nachprüfbar. Ist den Parteien Irrationalität recht, so ist sie Religionsgemeinschaften schon längst billig, und diese Entwicklung ist weder begrenzbar noch aufzuhalten.

In der Schweiz fragen sich nun die guten Menschen, warum niemandem vorher etwas auffiel. Aber wie denn auch, wenn dem Nachbarn nicht ständig über den Zaun zu spähen zum guten Ton gehört? Soll ich meines Bruders Spitzel sein, weil doch auch Wahnsinnssekten von der modernen Freiheit profitieren könnten? Wir werden mit solchen Wahnsinnstaten leben müssen, je mehr unsere Gesellschaft sich in neokonservativer Beziehungslosigkeit auflöst. Sektenfanale sind nur die Kehrseite unserer gern gepriesenen Freiheitsmünze. Hans-Georg Behr

40.000 mal Danke!

40.000 Menschen beteiligen sich bei taz zahl ich – weil unabhängiger, kritischer Journalismus in diesen Zeiten gebraucht wird. Weil es die taz braucht. Dafür möchten wir uns herzlich bedanken! Ihre Solidarität sorgt dafür, dass taz.de für alle frei zugänglich bleibt. Denn wir verstehen Journalismus nicht nur als Ware, sondern als öffentliches Gut. Was uns besonders macht? Sie, unsere Leser*innen. Sie wissen: Zahlen muss niemand, aber guter Journalismus hat seinen Preis. Und immer mehr machen mit und entscheiden sich für eine freiwillige Unterstützung der taz! Dieser Schub trägt uns gemeinsam in die Zukunft. Wir suchen auch weiterhin Unterstützung: suchen wir auch weiterhin Ihre Unterstützung. Setzen auch Sie jetzt ein Zeichen für kritischen Journalismus – schon mit 5 Euro im Monat! Jetzt unterstützen