piwik no script img

Vor den Wahlen

■ betr.: „Keine medizinischen Expe rimente mit Behinderten“, taz vom 4.10.94, „Bioethik-Konvention“, taz vom 26.9.94

In Eurer Ausgabe vom 4.10. schreibt Ihr: „Bundesregierung und Opposition lehnten jetzt einhellig den Entwurf für eine Bioethik-Konvention des Europarates ab.“ Nur eine Woche vorher gab es eine Meldung, die gar nicht dazu passen will. Die SPD hätte beantragt, der Europarat solle sich so lange nicht mit der Bioethik-Konvention befassen, bis sie im Bundestag diskutiert worden sei. Dieser Antrag wurde im Bundestag mit den Stimmen der Regierungsparteien praktisch abgelehnt. Eine Verabschiedung der Konvention hätte zur Folge, schreibt Ihr am 26.6., daß „als erstes ... sicherlich das Embryonenschutzgesetz zur Diskussion stehen“ würde.

Mit anderen Worten, da läuft, kurz vor der Wahl, eine völlig unverbindliche, aber mit großen Worten geführte Diskussion. PolitikerInnen, die in dieser Sache Glaubwürdigkeit besitzen, hängen sich raus. Frau Leutheusser- Schnarrenberger: „Wir werden Regelungen, die in Widerspruch zu den Grundsätzen unserer Verfassung und unseren gesetzlichen Regelungen stehen, verhindern.“ Und die Regierung wolle weiter darauf dringen, daß europaweit der Standard des deutschen Embryonenschutzgesetzes erreicht wird.

Schade, daß die taz auf diesen Widerspruch nicht hingewiesen hat. Es wäre ja nicht das erstemal, daß deutsche Politiker auf europäischer Ebene Regelungen unterstützen oder gar anschieben, die denen bei uns widersprechen. Was bei uns nicht durchsetzbar ist, kann so über Straßburg oder Brüssel erreicht werden. Vor der Wahl aber macht es sich gut, sich als ernsthafte Verfechter ethischer Werte zu präsentieren. [...] Linde Peters, München

In Deutschland werden dauerhaft Planstellen für Behindertenheime gestrichen und Tagespflegesätze monatelang bewußt nicht bearbeitet um eine Erhöhung hinauszuschieben oder zu umgehen. Behinderte müssen sich in der Öffentlichkeit beschimpfen lassen, Schadensersatzsummen für behinderte Unfallopfer werden zu Gunsten des Staates um 50 Prozent gekürzt. Und der Rechtsstaat beurteilt die „Urlaubsbelästigung“ durch Behinderte als schadensersatzpflichtig.

Wenn also ein Politiker sagt „die Bioethikkonvention sei im Widerspruch (nicht unmenschlich, nein!) zum Grundgesetz“, so ist das doch der Beweis, daß die Behinderten in Deutschland in den Augen der Politiker soviel wert sind wie ein Sandkorn in der Wüste! Holger Lauerer, Heilerziehungs-

pfleger, Augsburg

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen