: Das Schweigen der Goldhähnchen
■ Martha Letzas ist 86 und wandert seit 40 Jahren für den Naturschutz, die Witwen und die Pensionierten
„Gucken Sie mal: alles Natur!“ Martha Letzas deutet auf zwei laufende Meter Pflanzen- und Tierbücher im Regal. „Wissen Sie, ich bin 86 Jahre alt und ein Phänomen!“ Das sagen von ihr auch die Menschen, die sonntags mit ihr durch Wälder und Moore des Bremer Umlands stapfen. Seit über vierzig Jahren führt Martha Letzas ehrenamtlich die naturkundlich Interessierten durch die Natur – jeden, jeden Sonntag. Sie ist mit Gruppen schon insgesamt einmal um die Erde gerannt, hat mal ein Teilnehmer ausgerechnet. Und weil so viele mit ihr im Wald waren, ist Martha Letzas in Bremen eine Bekanntheit. Ihre Wanderungen stehen im Programmheft des Bundes für Umwelt und Naturschutz (BUND), dessen Ehrenmitglied und Aktivistin sie ist – eigentlich gegen ihren Willen. Denn 1952, als sie mit der naturkundlichen Wanderei begann, hieß ihre Organisation „Bremer Naturschutzgesellschaft“. In diesem Club pflanzen- und vögelbegeisterter BiologielehrerInnen fühlte sie sich wohl und war auch lange Vorstandsmitglied. Als der BUND die Naturschutzgesellschaft Anfang der 80er Jahre schluckte, war Frau Letzas dagegen. Sie deutet ihr Problem nur an: „Ich war nie politisch. Wohl grün, aber ohne Scheuklappen.“ Von da an „kaprizierte ich mich auf die Wanderungen“.
Sie kaprizierte sich: Ohne Zweifel, Martha Letzas kommt aus gehobenen Verhältnissen. Sie wuchs (unglücklich) bei Pflegeeltern in einem feinen Bremer Haus auf, das im Sommer mit dem gesamten Haushalt auf den Sommersitz umzog. Im Grünen entdeckte sie ihre Liebe zu Sonnentau und Goldhähnchen. Eine Berufsausbildung war damals, zu Beginn des Jahrhunderts, unter „höheren Töchtern“ nicht üblich. Weil sie ein Händchen für Kinder hatte, wurde sie „Hausdame“ und Erzieherin mutterloser Kinder. Mit 30 verliebte sie sich in einen ganz feinen Bremer Herrn, der aber, als sie schwanger wurde, weniger fein reagierte und sie sitzen ließ. „Ich war ja so anlehnungsbedürftig, nach der schweren Kindheit.“ Als alleinerziehende Mutter ging sie auf die Handelsschule, wurde dann Büroangestellte und diente schließlich 17 Jahre dem Staat – beim Bremer Wirtschaftssenator in der Abteilung „Interzonenhandel“.
Mit dem Wandern begann Martha Letzas, weil sie immer häufiger allein war, als ihre Tochter begann, eigene Wege zu gehen. Besonders sonntags. Es kann ja auch nur eine Alleinstehende schaffen, vierzig Jahre lang jeden Sonntag unterwegs zu sein. Genau wie der „Stamm“ – so nennt sie ihre fünfzehn bis vierzig mehr oder weniger regelmäßigen Mitwanderer –; der besteht überwiegend aus Witwen, Geschiedenen und Pensionierten, denen die Gruppe eine „Art Auffanglager“ sei. Die meisten sind über siebzig, einige über achtzig, aber immer kommen ein paar „Gäste“ mit. Nur Kinder – das ist selten, das war früher mal, heute interessierten die sich mehr fürs Fernsehen und den Computer. „Was es alles nicht mehr gibt!“ Martha Letzas hat viel verschwinden sehen in ihrem langen Leben. Den Königsfarn im Moor. Den Vogel Ortolan. Die balzenden Birkhühner und die Nachtschwalben, an die man sich früher um zwei Uhr morgens heranpirschte. Den Wachtelkönig gibt's nicht mehr. Nur das Goldhähnchen – das hat sie verloren, weil sie es nicht mehr hören kann, sein kleines, dünnes „si si si si si“. Übrigens sind auch viele Busverbindungen im Bremer Umland verschwunden, so daß einige ihrer ausgefeilten Acht-Stunden-Touren nicht mehr zu machen sind.
Kaum zu glauben ist, daß Frau Letzas zwar hundert Touren entwickelt hat, aber keine Landkarte lesen kann. Alles ist in ihrem Kopf. Damit sie das ganze Wissen nicht dereinst mit ins Grab nimmt, hat sie jetzt einen Lehrling: eine Dame von 63 Jahren. Sie hat einige große Touren übernommen, aber leider „interessiert sie sich überhaupt nicht für Natur“. Die Arthrose im Knie zwingt Frau Letztas nun doch, ein wenig kürzer zu treten und sich auf die etwas gemütlicheren „Spaziergänge“ zu verlegen. Neulich bei der Gymnastikstunde hat sie sich bei einem Sturz sogar ein paar Zerrungen und Muskelfaserrisse zugezogen. Jetzt humpelt sie auf Krücken durch die Wohnung und weiß gar nicht, wohin mit der überschüssigen Energie.
Martha Letzas hat beinahe ein Jahrhundert lang die Natur beobachtet, die Veränderungen, das Verschwinden von Arten aus der Gegend – war da nie ein Ärger, eine Wut, die sich politisch hätten äußern wollen? „Was dagegen unternehmen? Nein, nie! Das Schöne beim Naturschutz ist: Das machen andere schon.“
Burkhard Straßmann
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen