11. Oktober 1989
: Zeitunglesen zwischen den Zeilen

■ Fünf Jahre danach – eine taz-Serie

Zeitunglesen ist die Hauptbeschäftigung an diesen Tagen. Informationen über die reale Lage im Lande kommen momentan ausschließlich über die westlichen Fernsehsender. Im Inland ist man auf die gut geübte Fähigkeit des Zwischen-den-Zeilen- Lesens in DDR-Zeitungen angewiesen.

Dabei ist eine interessante Arbeitsteilung zu beobachten. Die Junge Welt hat es offenbar übernommen, weiterhin die protestierenden Bürger des Landes in Kommentaren und sogenannten „Reportagen“ und „Interviews“ zu beschimpfen, verächtlich zu machen und ihnen mehr oder weniger offen zu drohen. Die „Reportagen“ tragen dann auch Titel wie: „Wer folgte denn dort wem?“, „Da sah Trotte seine Stunde kommen“ oder „Genau das verhindern wir!“

Bezirkszeitungen wie beispielsweise die Berliner Zeitung veröffentlichen unter Überschriften wie: „Der Sozialismus bleibt unantastbar – Empörung und Betroffenheit über antisozialistische Ausschreitungen in Berlin“ hauptsächlich die „spontanen“ Stellungnahmen von „Einzelpersönlichkeiten und Kollektiven“ zu den Vorgängen im Land. Die Praxis ist bekannt: Immer, wenn die SED Unpopuläres beschloß, waren die Zeitungen in den Tagen darauf mit „spontanen“ Beifallsbekundungen von Bürgern seitenweise gefüllt. Entgegen der offiziellen Lesart („Verbundenheit von Partei und Bevölkerung“) war dies immer ein Zeichen dafür, daß irgend etwas nicht in Ordnung war. Das ND schließlich beschränkt sich auf regierungsamtliche Mitteilungen nach dem Motto: „Mitteilung der Presseabteilung des Ministeriums des Inneren“.

Das Politbüro tagt seit 48 Stunden in Permanenz. Offenbar ist Bewegung im Land. Wolfram Kempe