: Aber persönlich stimmt die Chemie
■ Fast scheint es, als hätten SPD und Bündnis 90/Grüne Angst vor dem Wahlsieg: Die SPD driftet auf die Große Koalition zu, die Bündnisgrünen wollen mindestens dreißig Stimmen Mehrheit, und die Programme ...
Fast scheint es, als hätten SPD und Bündnis 90/Grüne Angst vor dem Wahlsieg: Die SPD driftet auf die Große Koalition zu, die Bündnisgrünen wollen mindestens dreißig Stimmen Mehrheit, und die Programme weisen in entgegengesetzte Richtungen
Aber persönlich stimmt die Chemie
Feigheit vor dem Feind mußte sich Joschka Fischer bislang höchstens von eigenen Parteigängern vorwerfen lassen. Seit jüngstem aber entdecken Sozialdemokraten neue Wesenszüge an dem hessischen Ex-Minister und potentiellen Koalitionspartner: „Ich wußte gar nicht, daß Joschka Fischer ein so ängstlicher Mensch ist“, wundert sich einer aus Scharpings Führungsmannschaft. Der Grund: Fischer legt die Latte für eine rot- grüne Reformkoalition in Bonn bedenklich hoch. Ohne eine Mehrheit von rund dreißig Sitzen, so seine Bedingung, brauche eine solche Regierung nicht anzutreten.
Wieviel Stimmen „über den Durst“ braucht eine rot-grünes Bündnis tatsächlich, damit die Grünen zum erstenmal in der Geschichte des Bundestags am Kabinettstisch sitzen könnten?
Nach offiziellen Stellungnahmen von SPD-Politikern zu diesem Punkt fragt man in Bonn zur Zeit vergebens, öffentlich treiben die Sozialdemokraten keine Bündnisarithmetik. Die Aussicht auf eine Große Koalition, so glauben sie, würde die eigenen Wahlkämpfer entmutigen, Diskussionen über Rot-Grün aber die Wähler der Mitte verschrecken.
Dagegen macht der prominenteste Bündnisgrüne aus dem Sicherheitsbedürfnis seiner Partei keinen Hehl. Öffentlich dementiert Joschka Fischer nur, daß es die Angst um die Treue der eigenen Mannschaft ist, die ihn die Latte so hoch legen läßt. „Wenn wir grundsätzliche Veränderungen in diesem Land organisieren wollen, brauchen wir eine gewisse Mehrheit“, erklärte er der Welt. Auch Vorstandssprecher Ludger Volmer verlangt eine „komfortable Mehrheit“.
Wie soll die aussehen?
Eine deutliche rot-grüne Mehrheit scheint nur möglich, wenn die FDP an der Fünfprozenthürde scheitert und auch die PDS aus dem Parlament fliegt, weil sie keine drei Direktmandate schafft. Selbst in diesem Fall müßten die Sozialdemokraten gegenüber den Meinungsumfragen noch kräftig zulegen. Beispiel: SPD 39 Prozent, Grüne 9 Prozent. Die Union hätte auch mit ihrem Ergebnis von 1990 (44 Prozent) keine Sperrminorität mehr. Die SPD würde dann rund 270 Abgeordnete stellen, die Bündnisgrünen rund 60, die Union etwa 310. Eine rot-grünes Kabinett könnte mit einem Abstand von rund zwanzig Sitzen regieren.
Daß SPD-Strategen die Mehrheitsfrage im Gegensatz zu den notorisch risikofreudigen Bündnisgrünen herunterspielen und mit sechs oder sieben Stimmen Mehrheit durchstarten würden, scheint paradox. Für die Sozialdemokraten sind angeblich Inhalte wichtiger als die Größe des Abstands zum Gegner im Parlament.
Im Lauf von Koalitionsverhandlungen, so weiß Scharpings Mannschaft aus Mainzer Erfahrungen, kommt der Zeitpunkt, an dem sich die Gespräche auf eine Handvoll Konfliktfragen zuspitzen. „Der Knackpunkt mit den Grünen wird sein, ob man sich in diesen wenigen Fragen hart einigt“, sagt ein Scharping-Berater voraus. Seine Bedingung: „Da dürfen keine Formelkompromisse herauskommen.“ Über Inhalte von Verhandlungen und mögliche Dissenspunkte wollen die Sozialdemokraten auch in Hintergrundgesprächen zur Zeit nicht spekulieren. Ludger Volmers Ankündigung, die Grünen würden mit der SPD „auf der vollen Breite des Mannheimer Programms verhandeln“, also auch die Nato-Mitgliedschaft in Frage stellen, wirkt allerdings wie das bekannte Pfeifen im Wald. In diesem Punkt will die SPD keinen Jota nachgeben.
Daß die Grünen eine soviel größere Mehrheit wollen als die SPD, hat auch mit einem Trauma aus grüner Regierungspraxis zu tun. Der Tübinger Politologe Winfried Thaa untersuchte jüngst für den Sammelband „Grüne an der Macht“ die Politik grüner Minister und Senatoren. Ergebnis: Als erstes Problem bei der Durchsetzung ihres ökologischen Programms nannten die regierenden Alternativen im Rückblick das Verhältnis zur eigenen Partei, erst an zweiter Stelle das zum Koalitionspartner.
Allerdings bereitet nicht die Mehrheitsfrage den Bündnisgrünen momentan das meiste Kopfzerbrechen, sondern die Neigung des potentiellen Partners zur Großen Koalition. Daß die Sozialdemokraten selbst nach einem reformfreudigen Wahlergebnis mit der CDU sprechen, ist absehbar.
Vom Reformbündnis abgerückt ist die SPD-Troika in den Augen der Grünen spätestens mit der Vorstellung ihres 100-Tage-Programms vor zehn Tagen. Grünen- Pressesprecherin Anne Nilges: „Bei uns haben alle Alarmglocken geläutet, als wir die drei Herren auftreten sahen.“ Aufgefallen war den grünen Analytikern nicht nur, daß Scharping zum erstenmal eine Große Koalition nicht mehr kategorisch ausschloß und statt „Mit mir nicht“ nur noch erklärte: „Wir wollen sie nicht.“ Noch mehr schockiert waren sie durch das Fehlen ökologischer Vorhaben in dem Programm (s. unteren Text).
Schon den Eintritt des industriefreundlichen Ministerpräsidenten Gerhard Schröder in die Troika sahen die Umweltschützer mit Argwohn. Bei der Vorstellung des 100- Tage-Programms machte sich Schröder über ökologische Vorhaben lustig. In Interviews rühmte er sich auch noch, das Tempolimit aus dem 100-Tage-Programm der SPD gestrichen zu haben.
Trotz inhaltlicher Differenzen stimmt zwischen Roten und Grünen die persönliche Chemie. Fischer duzt alle drei Mitglieder der Troika. Und Ministerpräsident Gerhard Schröder selbst entschied kürzlich, daß die Bündnisgrünen ihren Wahlabend am 16. Oktober in der niedersächsischen Landesvertretung feiern können. Falls der Souverän dann eine Reformkoalition zuläßt, wissen die Sozialdemokraten zumindest, wo sie ihre Verhandlungspartner schnell erreichen können. Hans Monath, Bonn
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