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Gedeckelt wird erst nach der Wahl

■ Meilenweit auseinander: die 100-Tage-Programme von SPD und Grünen

Unbehagen macht sich breit bei Bündnis 90/Die Grünen. Weder Stil noch Programm, mit denen Herausforderer Scharping die Regierung Kohl aus dem Amt kippen will, kommen ihnen entgegen. Nur wer den Wechsel in der Politik deutlich macht, so die Kritik der grünen Realos, kann auch eine Veränderung bewirken. Die Agenda der tiefgreifend gewandelten politischen Grundprobleme – Staatsverschuldung, Massenarbeitslosigkeit, globale Umweltkrise – schafft schließlich einen hohen Reform- und Regulierungsbedarf. Wie sich bereits morgen umweltfreundlicher produzieren läßt, zukunftsträchtige Arbeitsplätze entstehen oder der Sozialstaat umgebaut werden kann, dafür haben die Bündnisgrünen überzeugende Vorschläge geliefert.

Doch unbeirrt hält der SPD- Vorsteher an seinen „Essentials“ fest: Zuerst die Stärkung der Wirtschaft, dann die Schaffung von Arbeit und zuletzt die Ökologie. „Reformerische Ängstlichkeit“ wirft Joschka Fischer Rudolf Scharping vor allem wegen dessen Vollbremsung vor ökologischen Weichenstellungen vor. So findet sich von der ökologischen Steuerreform, bis vor kurzem noch ganz oben auf Oskar Lafontaines finanzpolitischer Wunschliste, im 100-Tage- Programm kein einziges Wort wieder. Eine solches Vorhaben, das eine Verteuerung des Verbrauchs von Rohstoffen und Energie sowie eine Entlastung der Arbeit zum Ziel habe, gibt Scharping dafür der Wirtschaftswoche preis, müsse „europäisch harmonisiert sein“. Eine Erhöhung der Mineralölsteuer hat der SPD-Kanzlerkandidat ebenfalls verbindlich abgelehnt – im Gegensatz zu den Grünen, die den Bezinpreis im ersten Jahr um 50 und in den Folgejahren um jeweils weitere 30 Pfennige anheben wollen. Auch von einer Verkehrswende keine Spur: Weder Tempolimit noch Ausbau des Schienenverkehrs stehen im Sofortprogramm, dafür aber Gerhard Schröders Abwrackprämie für Altautos – für Fischer eine „exorbitante Subvention mit fragwürdigem Ergebnis“.

Doch gerade die Ökologie dürfte mit Sicherheit zum Knackpunkt bei möglichen rot-grünen Koalitionsverhandlungen werden. Wie weit man hier auseinanderliegt, belegen beispielsweise die Positionen zur Atomenergie: Während die Bündnisgrünen im Falle einer Regierungsbeteiligung sofort ein Atomausstiegsprogramm verabschieden wollen, möchte die SPD zunächst einmal die Energiekonsensgespräche fortsetzen, um dann auf Grundlage der heimischen Kohle und einer forcierten Nutzung regenerativer Energiequellen den Verzicht auf Atomenergie zu ermöglichen.

Verdruß herrscht nicht nur bei den Grünen, auch bei der SPD mag niemand mehr so richtig an Rot-Grün glauben. Denn wo die Ökologie auf der Strecke bleibt, wimmelt es nur so von Rückbesinnungen auf klassische sozialdemokratische Positionen. Zu den Forderungen gehören: Ergänzungsabgabe statt Solidarzuschlag, ein „Beschäftigungspakt“, nach dessen konkreter Ausgestaltung nicht nur Edzard Reuter fragt, und ein subventionsverdächtiges „Aufbauprogramm deutsche Einheit“.

Die SPD setzt auf eine Verteidigung der Kernklientel statt auf ein Bündnis der Reformkräfte für eine grüne Perestroika – eine Strategie, die sich immer mehr als Sackgasse entpuppt: Mit altlinken Umverteilungsszenarien und Beschäftigungsinitiativen sind Adressaten in den innovationsbereiten Mittelschichten nicht zu ködern. Nicht ohne Grund, so der Vorwurf, habe eine SPD mit Unionsappeal bei den letzten Wahlen in den klassischen rot-grünen Hochburgen die meisten Stimmen verloren.

Oder ist die SPD-Globalregie in Richtung Große Koalition nur der Einsicht ins Machbare geschuldet? Scharping versucht die Quadratur des Kreises: Zwei Millionen neue Arbeitsplätze, eine gerechtere Lastenverteilung zwischen Ost und West, die Begrenzung der Neuverschuldung, keine Erhöhung der Steuer- und Abgabenqoute. Und Schattenfinanzminister Oskar Lafontaine besteht darauf, daß eine Politik aus dem Füllhorn öffentlicher Kassen und ungedeckter Schecks heute nicht mehr möglich ist und stellt deshalb alles unter einen strikten Finanzierungsvorbehalt.

Wer aber viel mehr will, und das gilt vor allem für manche Grüne, der lebt in Märchenzeiten. Das grüne Brevier ist voll von gutgemeinten, aber kostenintensiven Ideen. Nur ein Beispiel: Die „Grundsicherung“, die etwa 1.300 Mark im Monat betragen soll. Selbst wenn man alle Finanzierungsmöglichkeiten ausschöpft, bleibt diese Höhe nur frommer Wunsch. Und auch auf die Solidarität ihrer weitgehend materiell zufriedenen Mittelstandsklientel zu setzen, die als Erben und Immobilienbesitzer die nötigen Milliardenopfer leisten sollen, könnte leicht schiefgehen. Als habe man noch nie etwas von Kapitalflucht oder Investitionsstreik gehört, grassieren in weiten Kreisen der Bündnisgrünen nach wie vor die mechanistisch anmutenden Vorstellungen, man brauche das herumschwirrende Kapital nur abzugreifen.

Die grünen Eliten drängt es an die Macht. „Wir verhandeln über die volle Breite unseres Mannheimer Programms“, kündigte Vorstandssprecher Ludger Volmer bei der Präsentation ihres 100-Tage- Programms vollmundig an. Doch letzte Vorbehalte gegen eine Regierungsfähigkeit sollen zerstreut werden, indem man sperrige Radikalpositionen leise beiseite schafft. Von einer sofortigen Abschaltung aller Atomanlagen ist im 100-Tage-Programm, das die Grünen vorgestellt haben, ebensowenig mehr die Rede wie von einer Auflösung der Nato. Zunächst einmal soll es die Abschaffung der allgemeinen Wehrpflicht und eine Halbierung der Bundeswehr innerhalb der nächsten vier Jahre tun. Und bei der rechtlichen Sicherstellung der multikulturellen Gesellschaft, von der SPD im übrigen mit keinem Wort erwähnt, fordern die Bündnisgrünen zwar eine Rücknahme der Asylbegleitgesetze, würden sich aber wohl auch mit einer Änderung des Staatsbürgerrechts und einem Einwanderungsgesetz zufriedengeben.

Aber vielleicht will die SPD, die gerade auf dem Gebiet der Innen- und Außenpolitik auf „Kontinuität“ setzt, ja gar nicht mit den Bündnisgrünen regieren. Von den sozialökologischen Reformprojekten, kündigte Verheugen an, werde „sich wohl kaum etwas in einem Regierungsprogramm wiederfinden können“. Gedeckelt wird, auch bei Rot-Grün, erst nach der Wahl.

Erwin Single, Bonn

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