12. Oktober 1989: Erfindung des Dialogs
■ Fünf Jahre danach – eine taz-Serie
Wohin man auch kommt, wird in diesen Tagen politisiert. Noch vor vierzehn Tagen hätte ich es nicht für möglich gehalten, daß so viel politische Potenz in meinen Mitbürgern ist – immerhin ist auch das ein deutsches Volk, und die politische Befindlichkeit der Gesellschaft öffentlich zu diskutieren, gehört hier nicht zu den geförderten Tugenden. In dem Gefühl, vor drei Tagen hart am Bürgerkrieg vorbeigeschrammt zu sein, überwinden immer mehr Leute Angst und Trägheit. Ein neues Modewort entsteht: Dialog. Vor zwei Wochen sprach lediglich die Opposition in ihren Forderungen davon, jetzt führen es alle im Munde, selbst die Genossen des Politbüros. Tapeten- Kutte (Kurt Hager) geht sogar so weit, die SED als die Erfinderin und den „Hort des Dialogs“ auszugeben. Schulhort, denke ich bei mir, als ich das höre, doch dann schränkt der große Tapezierer auch schon ein: Die große „Volksaussprache“ solle dann vor und auf dem XII. Parteitag der SED 1990 stattfinden. Alles Rückzugsgefechte. Als wenn irgend jemand Lust hätte, so lange zu warten.
Das Land wird überschüttet mit Aufrufen, Gründungsmanifesten, Erklärungen und Appellen aller Art. Wer immer eins in die Hand kriegt, kopiert es und reicht es weiter. Die Zugangsbeschränkungen zu Kopierern in öffentlichen Intitutionen nimmt niemand mehr ernst. Eigentlich bleibt gar nicht genug Zeit, alles gründlich zu lesen. Ich bin wieder voller Hoffnung. Der Aufbruch, der jetzt beginnt, wird kaum noch aufzuhalten sein. Wolfram Kempe
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