: „Ey, echt stark, Gregor“
Wahlkampf links und rechts der Elbe: Im Osten hat die PDS Chancen auf ein Direktmandat / Im Westen bleibt sie dagegen wohl reine Promillepartei ■ Aus Lüneburg/Hagenow C. Seils
Gregor Gysi füllt jeden Saal. Fast tausend Zuhörer sind es im überfüllten Lüneburger Schützenhaus, rund 500 drängen sich zwei Tage später im Rathaussaal von Hagenow. In der niedersächsischen Kleinstadt suchen ganze fünfzehn aktive PDS-Sympathisanten nach einer Existenzberechtigung für den demokratischen Sozialismus. Im benachbarten mecklenburgischen Hagenow hingegen kämpft die PDS um ein Direktmandat bei den Bundestagswahlen.
„Wir werden die Abschaffung des Asylrechts nicht hinnehmen“, donnert Gysi, „wir müssen die Fluchtursachen bekämpfen und dürfen keine neuen Mauern errichten. Ein Asylrecht in den Nachbarländern hätte im zweiten Weltkrieg sechs Millionen Juden das Leben gerettet.“ Beifall brandet auf. Auf diese Worte haben die Besucher in Lüneburg nur gewartet.
Zwei Tage später hält Gregor Gysi nach denselben Worten einen Augenblick inne. Doch in Hagenow nicken nur einige Zuhörer zustimmend. Der Polit-Entertainer hat jedoch auch für seine Ost-Fans den passenden Trumpf im Ärmel. „Wir haben Erfahrung mit dem Mauerbau, deshalb, Herr Kohl, lassen Sie es.“ Das seicht-kritische Kokettieren mit der Vergangenheit zieht im Osten. Mit rhythmischem Klatschen fallen die Zuhörer dem heimlichen Vorsitzenden der PDS ins Wort.
„Darf ich Ihnen ein Faltblatt mitgeben?“ Natürlich darf Lutz Scherling. Vor der Kaufhalle der Schweriner Plattenbausiedlung „Großer Dreesch“ hat der Direktkandidat der PDS ein Heimspiel. Eigentlich ist Wahlwerbung hier überflüssig. Wähler und Kandidat verständigen sich fast wortlos. Hier ein Augenzwinkern, ein flüchtiger Gruß, eine geballte Faust, dort ein einladendes Lächeln, ausgebreitete Arme oder ein kameradschaftlicher Schlag auf die Schulter. Die roten Socken zum Preis von sieben Mark sind längst ein Verkaufsschlager.
Gibt es doch einmal Fragen, dann hat der 37jährige Scherling immer eine unverbindliche Antwort parat. Das Schulsystem? „Eine Katastrophe, da haben Sie recht. Die PDS will eine andere Bildungspolitik.“ Mieterhöhungen? „Die müssen wir verhindern, machen Sie ihr Kreuz bloß an der richtigen Stelle!“ Läßt sich ein Problem nicht mit ein paar Worten lösen, dann gibt es ja noch die Bürgersprechstunde. „Kommen Sie am Dienstag in unsere Geschäftsstelle, da können wir über alles in Ruhe reden.“
Kritische Fragen stellt in Schwerin niemand. Anfeindungen sind selten. Nur einmal ruft ein Passant: „Wir haben lange genug unter euch gelitten!“ Prompt hagelt es lautstarken Protest. Die Schweriner halten zu ihrem PDS-Kandidaten. Bei den Bundestagswahlen könnte Lutz Scherling zum Joker für die PDS werden. Bei den Europawahlen war die PDS im Wahlkreis Schwerin/Hagenow stärkste Partei. Dieses Ergebnis will Scherling bei den Bundes- und den Landtagswahlen am 16. Oktober wiederholen.
Mit Angriffen hält sich die politische Konkurrenz zurück. Freundschaftlich, fast herzlich verläuft die zufällige Begegnung zwischen dem PDS-Direktkandidaten und dem Fraktionsvorsitzenden der FDP im Landtag von Mecklenburg-Vorpommern, Walter Goldbeck. Der ehemalige Kulturreferent des Bezirksvorstandes der LDPD und Scherling, früher Mitarbeiter im Rat des Bezirkes Schwerin, kennen sich schon lange. Schon vor der Wende ist man hier im Stadtteil gemeinsam durch dick und dünn gegangen. Respekt zollt Walter Goldbeck der politischen Arbeit seiner Konkurrenz. „Das sind Leute, die was können. Die sind hier hart am Baggern.“
Selbst am Wahlstand der Bündnisgrünen hält man sich mit Kritik zurück. Natürlich trieben Einheitsfrust und der Verlust von Privilegien der PDS die Wähler zu. Beim Kampf um neue Mehrheiten im Schweriner Landtag ist die PDS eine eingeplante Größe. Der Spitzenkandidat von Bündnis 90/ Die Grünen für die Landtagswahlen, Heiko Lietz, hält auch in Mecklenburg-Vorpommern das Magdeburger Modell für möglich. SPD- Landeschef Harald Ringsdorff schließt lediglich eine Koalition mit der PDS aus.
Wer glaubt, der Erfolg der PDS beschränke sich allein auf die Hochhaussiedlungen der ehemaligen Bezirksstadt, irrt. In vielen Orten zwischen Elbe und Schweriner See macht die PDS als stärkste Partei konkrete Opposition gegen die, so Lutz Scherling, „neue nationale Front“. So fordert die PDS den Schutz der Gewerbetreibenden vor den Supermärkten auf der grünen Wiese oder sammelt Spenden für den Erhalt des Jugendklubs. Und natürlich protestiert man gegen den „Treuhandkahlschlag“ und die „Rückkehr der Junker“.
15.000 Einwohner zählt die Kleinstadt Hagenow, die wenigen Industriebetriebe sind abgewickelt, neun von zehn Arbeitsplätzen in der Landwirtschaft sind verschwunden. Bevor am Abend Stargast Gregor Gysi auftritt, treffen sich die Genossen auf dem Sportplatz zum „Oktoberfest“.
Viel ist nicht los. Lange Reden scheinen überflüssig. Aus den Lautsprechern plärrt Ost-Rock. Ein paar Kinder üben sich im Sackhüpfen und Eierlaufen. Das Wahlkampfmaterial liegt unbeachtet herum. Hier sind überzeugte PDS- Anhänger unter sich. „Früher wurdste unterdrückt, heute wirste beschissen.“ So lautet das Fazit nach vier Jahren deutscher Einheit. Nein, die DDR wolle man nicht zurückhaben, aber ein bißchen langsamer hätte es mit der Vereinigung gehen sollen. „Wir wählen jetzt alle PDS, der Kohl hat's nicht gebracht.“ Doch was soll die PDS bringen? Die Erwartungen sind bescheiden. „Der Gysi haut in Bonn wenigstens mal auf den Tisch.“
Zur selben Zeit bemüht sich im achtzig Kilometer entfernten Lüneburg eine Wählerinitiative darum, daß die PDS im Westen keine Promillepartei bleibt. 70.000 Einwohner hat die Beamtenstadt, die sich seit einigen Jahren auch Universitätsstadt nennen darf. Seit zwei Jahren hat sich eine Rathauskoalition aus Sozialdemokraten und Grünen der kommunalen Reformpolitik verschrieben. In der niedersächsischen Kleinstadt jammern vor allem Geschäftsleute und Eigenheimbesitzer. Die einen, weil die autofreie Innenstadt die Kunden vertreibt. Die anderen, weil sich seither die Autofahrer auf der Suche nach immer neuen Schleichwegen durch die Wohngebiete quälen. In der Lüneburger Fußgängerzone gibt sich die PDS bescheiden, die Stimmung ist aggressiv. Drei Mitglieder der PDS-Wählerinitiative stehen schüchtern hinter zwei kleinen Campingtischen und verteilen Luftballons. „Wir wollen, daß die PDS wieder in den Bundestag kommt“, lautet ihre Botschaft. Neugierig fragen einige Passanten nach dem PDS-Programm. Andere pöbeln aus sicherer Entfernung: „Verbrecher“, „Mörder“ oder „Jetzt breitet sich die Seuche auch hier noch aus.“
„Da stecken dieselben DKPler dahinter, die hier schon die Friedensbewegung dominiert haben“, schimpf der grüne Stadtrat, Andreas Meisiehs. „Das sind notorische Neinsager.“ Und die bündnisgrüne Bundestagskandidatin Renate Backhaus sorgt sich um den Machtwechsel in Bonn: „Die machen uns glatt Rot-Grün kaputt.“
Wer nach dem Kahlschlag im Osten jetzt den „Sozialabbau im Westen verhindern“ wolle, müsse einfach die PDS stärken, lautet dagegen das Credo von Karl-Heinz Hansen. Er hat sich zu den „demokratischen Sozialisten“ in der Innenstadt gesellt und verteilt PDS- Flugblätter. Als SPD-Rebell und ehemaliger Bundestagsabgeordneter machte Hansen Anfang der achtziger Jahre Schlagzeilen. Damals wurde er aus der SPD ausgeschlossen, weil er der sozialdemokratischen Bundesregierung im Zusammenhang mit der Nato- Nachrüstung vorgeworfen hatte, sie betreibe „Geheimdiplomatie gegen das eigene Volk.“ Nach acht Jahren im politischen Ruhestand habe ihn die „Hetze der CDU“ gegen die PDS – die „dritte Welle des Antikommunismus“ – wieder aktiv werden lassen. Doch bei der Frage, warum ein westdeutscher Altlinker die PDS wählen solle, verliert sich der 67jährige in Strategie und Taktik. Natürlich seien Teile der Partei „konservativ“ und „rückwärtsgewandt“. Dennoch sei nicht ausgeschlossen, daß sich der Teil der Partei, der „wirklich demokratischen Sozialismus will“, durchsetze. Die Lüneburger interessiert das wenig. Das samstägliche Shopping hat ihre Aufmerksamkeit vollständig absorbiert.
Gregor Gysi jedoch bekommt auch sein Lüneburger Publikum in den Griff. „Die realen Widersprüche verlaufen zwischen oben und unten“, verkündet er, „nicht zwischen Ost und West.“ Ausführlich erklärt er seine Alternativen für die Wirtschaftspolitik. Die Sozialabgaben der Unternehmen sollten sich beispielsweise nicht mehr an der Zahl der Beschäftigten orientieren, sondern an Umsatz und Gewinn. Kleine oder arbeitsintensive Unternehmen würden dadurch entlastet, gut verdienende High- Tech-Unternehmen hätten mehr zu zahlen. Mit einer solchen Umverteilung, so erklärt Gysi, könnten viele neue Arbeitsplätze geschaffen werden.
Natürlich hat der Sprachkünstler auch noch ein Schmankerl für die linke Seele parat: 37 Milliardäre gebe es in Deutschland, „da wird man doch mal rangehen dürfen“. Die Stimmung ist gut, und der PDS-Politiker entläßt die Anhänger der Grünen nicht, ohne ihnen die Frage mit auf den Weg zu geben, wie sie denn mit Otto Graf Lambsdorff ökologische und soziale Reformen umsetzen wollen. Die meisten Besucher ziehen zufrieden ab. Gysis Reformideen, so ein Zuhörer, finde er ja „interessant“. Dennoch wird er am 16. Oktober die Grünen wählen. Nur ein paar Punks kommen nach der Show nach vorne und klopfen Gysi auf die Schulter: „Ey, echt stark Gregor, wir wählen PDS.“
Gleiche Themen für Ost und West – das ist Gysis Devise im Wahlkampf. Doch in Hagenow erwarten die Zuhörer vor allem, daß Gregor ihnen Mut macht. Zwar ist es fast dieselbe Rede, aber natürlich betont er hier den Widerspruch zwischen Ost und West. Das Altschuldenhilfegesetz sei „kriminell“, es treibe die Wohnungsbaugesellschaften an den Rand des Abgrunds. Das unsoziale „Rentenstrafrecht“ müsse weg. Kaum sagt er's, brummelt es auch schon aus einer hinteren Reihe: „Der Kerl hat recht, diesmal geht's ums Ganze.“
Streut Gysi in seine Rede Anekdoten aus der DDR ein, dann tobt der Saal. Bringt er den Alltag in anschaulichen Worten auf den Punkt, dann trifft er den Nerv seiner Zuhörer. Politik, so erklärt Gysi den Hagenowern, funktioniere nach dem „Wohnungsamtsprinzip: Du mußt jeden Dienstag nerven, sonst kriegst du keine Wohnung.“
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