: Beunruhigt, aber mit Haltung
Der Sturzflug des Rubels beschleunigt sich / Der Kurssturz bringt Rußlands BürgerInnen in Existenznöte ■ Aus Moskau Barbara Kerneck und Klaus-Helge Donath
Früher Nachmittag im Moskauer Vorort Kunzewo: Vor der Kulisse der in Fertigbauweise aus dem Boden gestampften Hochhäuser prangt das „Kommertscheski Magazin“. Die Händler drinnen, nutzen die zu Ende gehende Mittagspause, um die Büchsen mit deutschen Würstchen und Konserven vom Mittelmeer umzupreisen. Auf der Treppe vor dem Laden verkauft eine bernsteingeschmückte Oma Kräuter und Zucchini.
Natürlich habe sie von dem Kurssturz gehört, antwortet sie auf die entsprechende Frage: „Ich bin schwer beunruhigt. Jetzt sind die Benzinpreise gestiegen, und das heißt, das alles andere auch teurer wird. Aber was soll ich machen? Auf die Straße gehen und schreien? Das hilft ja doch nicht. Die Hand aufhalten? Das bin ich nicht gewöhnt. Also versuche ich, mich hier mit dem Zeugs aus dem Garten irgendwie herauszuwinden. Wen ich wählen würde? Niemanden werd' ich je wieder wählen, bisher haben uns alle da oben übers Ohr gehauen. Vor einem Jahr hat Jelzin gesagt, er werde seinen Kopf auf die Eisenbahnschienen legen, wenn sich die Situation in zwölf Monaten nicht wesentlich bessert. Jetzt warte ich, daß er's tut!“
In der Wechselbude im Inneren des Gebäudes drängen sich etwa vierzig Wartende – von denen die ersten schon vor der Pause da waren. Sie werden von einem Prachtkerl in Camouflage-Uniform vor einer Schranke gehalten. Der Grund ist offensichtlich: Diese Zweigstelle der „Awtobank“ hat, im Gegensatz zu allen benachbarten „Wechsel-Punkten“ über Mittag den Kurs nicht erhöht. Hier muß man für den Dollar erst 3.950 Rubel geben und nicht 4.500 wie nebenan. Wenn man einen Dollar loswerden will, bekommt man 3.650 Rubel dafür.
Hier wechseln die Preisbewußten. Professionelle SpekulantInnen sehen sich unter den Wartenden nach PartnerInnen für einen Deal zum Privatkurs um. Zwei sorgfältig zurechtgemachte SekretärInnen versichern, sie seien nur heute hergekommen, weil sie der Kurswechsel „zutiefst beunruhige“. „Aber sollen wir deshalb losheulen?“ fragt die Ältere von beiden: „Irgendwie muß man doch Haltung bewahren.“
Eindeutige Schuldzuweisungen für die Entwicklung wollen die beiden nicht vornehmen. „Sehen Sie sich doch hier im Laden um: alles ausländische Waren. Bei uns im Lande wird nichts produziert, und da liegt der Hase im Pfeffer“, gestikuliert die Jüngere lebhaft: „Das sind komplizierte wirtschaftliche Kettenreaktionen, die die Fachleute kaum erklären können. Aber Rubel zu Hause herumliegen zu lassen, kann sich heute keiner leisten. In dieser Frage fängt bei uns die eigene, häusliche Volkswirtschaft an, und in der kennen wir uns aus“. An der nahen U-Bahn- Haltestelle werden Blumen verkauft. Auf die Frage, ob sich der Kurzsturz schon auf ihre Preise auswirke, reagiert die Händlerin verblüfft. Was für ein Kurs? Ach? Das hat mir schon vorhin einer gesagt. Aber da dachte ich, der will mich bloß veräppeln.“
Distanzierter äußerte sich ein Banker am Montag, als der Rubel erstmals unter die 3.000er-Marke gegenüber dem Dollar fiel: „Der Markt ist sehr nervös.“ An der offiziellen Moskauer Börse stürzte gestern der Rubelkurs noch einmal um runde 25 Prozent ab. 3.926 Rubel werden dort jetzt für einen Dollar geboten. Parallel zur Inflationsrate hatte die russische Regierung um Ministerpräsident Viktor Tschernomyrdin die 4.000er- Grenze erst für Ende des Jahres vorausgesagt.
Erklärungen des Kursverfalls werden reihenweise geboten, ebenso häufen sich die gegenseitigen Vorwürfe: Zentralbank, Regierung und Banken schieben sich gegenseitig den Schwarzen Peter zu. Seit drei Jahren erleidet der Rubel regelmäßig im Herbst überdurchschnittliche Verluste gegenüber dem Dollar. Denn zu diesem Zeitpunkt wirkt sich die allzu großzügige Kreditvergabe an die ineffektive Landwirtschaft aus. Die Agrarlobbyisten sitzen schließlich in der Regierung. Ähnlich verhält es sich mit den Betrieben des militärisch-industriellen Komplexes. Und schließlich erhält auch der abgewirtschaftete Norden des Landes seine Zuwendungen vor dem harten Winter.
Spekulationen gehen dahin, daß am Staatshaushalt vorbei riesige Summen in die bankrotten Industriezweige geflossen sind. Daher, so folgern Beobachter, habe die Zentralbank die kostspieligen Stützungskäufe für den Rubel aufgegeben.
Bis Ende September hatte die Bank den Kurs künstlich gestützt. Immerhin fallen durch den gesunkenen Rubelkurs die Verpflichtugen der Bank gegenüber dem Staat, die in Rubeln berechnet werden, wesentlich geringer aus. Tschernomyrdin und einige seiner Minister gelten als harte Industrielle. Sie sind bereit, die Betriebe vor dem Bankrott zu bewahren. Doch billige Kredite an diese Unternehmen haben deren Konkurrenzfähigkeit nicht befördert, denn allzu oft fließen die Gelder in ganz andere Kanäle.
Sehr wohl wurde dadurch jedoch das Haushaltsdefizit weiter vergrößert. Für diese Jahr werden Einnahmen von 63 Trillionen Rubeln prognostiziert, denen Ausgaben von 125 Trillionen gegenüberstehen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen