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Kinkel, Scharping und kein Wechsel

■ Das Wahlkampf-Finale an der Elbe: Auf Wiedersehen 1998

Mitleid? Nein, das glaubt Kinkel nicht mehr nötig zu haben, vier Tage vor der Bundestagswahl. „Ich habe den Vorteil, die neuesten Umfragen etwas genauer zu kennen.“ Und die lassen für ihn nur einen Schluß zu: „Die Stimmung hat sich gewendet, die FDP liegt im Wind“, dröhnt der Außenminister fast triumphierend seinen knapp 500 Zuhörern entgegen. Als wolle er all jene widerlegen, die ihn als drögen Beamten, als allzu bieder, als guten Kameraden beschrieben haben, dem zum Parteichef leider, leider jedes Quentchen Charisma fehlt. Nein, Kinkel spielt Wahlkampf – gelegentlich denkt er sogar daran, die Hand aus der Manteltasche zu nehmen.

Der einzige Hamburger Wahlkampfauftritt des FDP-Chefs, gestern nachmittag auf dem Gänsemarkt, erinnert ein wenig an diejenigen seines „Schmusepartners“ Helmut Kohl. Selbstzufriedenheit. Kein nachdenklicher Ton trübt die Vorfreude auf den Sonntag, vorbei die Zeiten, in denen er schon mal öffentlich über das mögliche Ende seiner Polit-Karriere sinnierte.

Die Zweitstimmenkampagne zieht, Kinkels nicht allzu innovativer Standardspruch auch: „Keine Experimente“. Den wiederholt er immer wieder, die Grünen fest im Visier. Wenn die dran kommen – Ogottogott. Dann bricht die Börse zusammen, das Ausland wendet sich ab, das Benzin kostet fünf Mark. Angst. Kommt immer noch an, bringt – wenn auch verhaltenen – Beifall. „Keine Experimente“.

Die kündigt Rudolf Scharping auch gar nicht erst an. Ergänzungsabgabe für wenige statt Solidaritätszuschlag für alle. Einheitliches Kindergeld statt gestaffelte Kinderfreibeträge. Das sind die einzigen konkreten Reförmchen, mit denen der SPD-Kandidat auf dem Harburger Rathausmarkt für den Kanzlerwechsel wirbt. Der Rest bleibt vage. „Friedlicher“, „gerechter“, vielleicht sogar ein wenig umweltfreundlicher.

Scharping vermeidet es sorgsam, sich allzuweit aus dem Wechsel-Rahmen zu lehnen. Es wirkt fast, als befürchte der Kandidat, vielleicht doch noch ... „Wählt Kohl einfach ab“!! Für einen Moment feuert Scharping, bis dahin so verhalten in Wort und Geste, sein Publikum an, geht aus sich heraus, läßt jenen Willen erkennen, den seine Anhänger bei den beiden vorhergehenden Hamburg-Auftritten arg vermißt hatten. Mag sein, daß er in vier Jahren wiederkommt. Wohl nicht als Kanzler, aber als Kandidat. Uli Exner

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